Lockere Föderation statt Zentralstaat?

Im italienischen Wahlkampf proklamieren „Ligen“ die Ablösung von Rom/ Das Land könnte damit Trendsetter werden/ Schon bei der Reichseinigung, dem Faschismus und dem Mitte-Links-Bündnis kam es dem Rest Europas um Jahre zuvor  ■ Aus Rom Werner Raith

Italiens Politiker machen derzeit eine ungewohnte Erfahrung: Das Volk, ansonsten bei Sprüchen ihrer Herrscher und Volksvertreter eher die Nase rümpfend, schenkt ihnen plötzlich Glauben. Wo immer Kandidaten im Wahlkampf für das Parlament (Termin: 5. und 6. April) vom Chaos sprechen, das derzeit im Lande herrscht, kommt wütender Beifall auf. Ob im Gesundheitswesen oder in der Altersversorgung, ob in der Alltags- und der Schwerkriminalität, ob in der Außenpolitik oder im Staatshaushalt — alles ist in Schieflage. Krankenhäuser funktionieren zu zwei Dritteln überhaupt nicht, Pensionen liegen unter dem Existenzminimum und werden oft monatelang verspätet ausgezahlt, die Außenpolitik ist zur Möchtegern- Show von Minister Gianni De Michelis entartet, der Haushalt gleicht einem Flickenteppich. Desaster, wohin man blickt.

Mit der Feststellung katastrophaler Zustände ist die Einigkeit zwischen Volksvertretern und Volk dann aber auch schon zu Ende. Das Rezept nämlich, das die Aspiranten auf künftige Deputierten- oder Senatssitze verfolgen, läßt sich unabhängig von Partei- oder Gruppenzugehörigkeit in zwei dürre Worte fassen: „Wählt mich.“ Und das ist den Italienern — erstmals — zuwenig.

Traditionell richteten sich die Stimmzettelausfüller bisher weniger nach Programmen oder politischen Visionen denn nach der Aussicht, die ihnen dieser oder jener Kandidat persönlich zusichern konnte — einen Arbeitsplatz, eine Baugenehmigung, Beförderung. Die Klientel stimmte für ihren Herrn oder von diesem empfohlene Kandidaten, und damit hatte es sich. Parteipräferenzen können wechseln, doch immergleich bleiben jene, die die Stimmen verteilen, die Notabeln in den einzelnen Ortschaften und Stimmbezirken, Arbeitgeber und Einflußreiche in Wirtschaft und Verwaltung.

Diesmal ist das anders — und das hängt nicht nur mit dem geänderten Wahlrecht zusammen, das nur noch eine Stimme pro Wähler zuläßt und nicht mehr, wie bisher, gleich vier (was die Wahl ganzer Seilschaften erlaubte). Den Italienern ist vielmehr klar geworden, daß auch der eifrigste Stimmenschieber und Klientelboß heute seine Versprechen nicht mehr halten kann. Es gibt in Italien schlicht nichts mehr zu verteilen.

Ausgeplünderte Wirtschaft

Die Bodenschätze sind ausgeplündert, die Landwirtschaft durch zuviel Chemie und durch die verfehlte europäische Politik ruiniert, der Tourismus, einst mit fast 20 Prozent eine der größten Einnahmequellen des Landes, in senkrechtem Fall, weil Umweltkatastrophen wie Algenplage und Ölpest sowie überhöhte Preise die Besucher in Scharen davontreiben; Automobilindustrie ebenso wie Waffenproduktion stecken in einer tiefen Rezession. Arzneien für die unzähligen Krankheiten sind nicht in Sicht — schlichtweg weil kein Geld da ist, sie zu bezahlen. Das Haushaltsdefizit ist mit umgerechnet mehr als 200 Milliarden DM auf einsame Spitzenhöhen geklettert, und täglich werden neue Budgetlöcher bekannt.

So haben die Italiener in den letzten Jahren den unerschütterlichen Glauben verloren, daß man sich, gestützt auf Improvisation und Schlitzohrigkeit, schon durchwursteln werde, sowie die Überzeugung, daß an Unglück niemals man selbst, sondern irgendwelche bösen Mächte oder Ausländer schuld seien, die Amis, die Russen, die Deutschen, der Papst oder der Teufel. Diesmal können die Italiener erstmals für viele alltägliche Desaster so recht keinen auswärtigen Feind ausmachen. Auch wenn sicher ein Gutteil der Probleme von der auf Aussitzen spezialisierten Gerontokratie in der derzeitigen Regierung mitproduziert ist — der Großteil der Unzulänglichkeiten ist schlichtweg hausgemacht. Unzuverlässigkeit, Pfusch, Annahme von Aufträgen, die man niemals ausführen kann, Wucher, Verschlafen von Modernisierungen und Weiterbildung — all das sind Eigenschaften, die man in einer Grauzone zwischen Mittelalter und Neuzeit noch als liebenswert achten und mitschleppen konnte. Mit der Öffnung der Grenzen aber wird die Konkurrenz so hart, daß sich derlei kein Land mehr leisten kann. Das Umdenken aber kommt nur langsam voran. Wo die Lage derart verzweifelt ist, springen natürlich aus allen Ecken und Enden Heilsbringer hervor. Neben einer Reihe ernsthafter Politik-Erneuerer — wie etwa die gegen Korruption und Mafia angehende „Rete“ des ehemaligen palermitanischen Bürgermeisters Leoluca Orlando, oder die „Referendums“-Listen, die bürgernahe Politik durchsetzen wollen — haben sich mehr als dreihundert Gruppen zur Wahl gemeldet, mehr als hundert davon bestanden auch in den Augen des Innenministeriums, das die Anträge werten muß.

Die Vielfalt neuer Gruppen — von denen fast ein Dutzend durchaus eine Chance hat, neben den zehn bisher schon vertretenen Parteien ins Parlament zu kommen — ist aber nicht nur Ausdruck der Ratlosigkeit: Sie zeigt auch, wie hart der Verteilungskampf in den kommenden Jahren werden wird. Für jedes Sonderinteresse gibt es nun eigene Parteien — ungehindertes Autofahren, freie Liebe auch im Knast, Aufhebung des Rauchverbots in öffentlichen Gebäuden, höhere Pensionen.

Manche davon haben inzwischen auch beträchtliches politisches Gewicht erhalten, so etwa die oberitalienischen „Ligen“, die vor allem den Erhalt des dort verdienten Geldes sichern wollen: Im reichen Norden wurden sich Mittelständler und Industrielle zuerst klar, daß das Ende der Fahnenstange erreicht ist, daß von nun an Faustrecht Einzug ins Soziale nehmen wird. Schon Mitte der achtziger Jahren begannen Lombarden und Piemontesen, Ligurer und Venetier mit ihrer Abschottung: keine Lira mehr für den unterentwickelten Süden, raus mit Ausländern und Sizilianern, Landeskinderbonus bei Stellenvergabe für alle in der Region Geborenen. Am Ende stand, seit 1990 offizieller Programmpunkt des „Liga“-Vorsitzenden Umberto Bossi, die Auflösung des Zentralstaates, so wie er im vorigen Jahrhundert entstanden ist. Statt dessen fordern die nach dem antikaiserlichen mittelalterlichen Städtebund „Lega lombarda“ benannten Gruppen eine lockere Föderation von drei Großregionen (Ober-, Mittel- und Unteritalien), jede mit Steuer- und Finanzhoheit — unschwer auszudenken, was von Rom bleibt, wenn der Geldfluß aus dem industrialisierten Norden ausbleibt.

Etablierte Parteien ratlos

Den etablierten, zentralistisch organisierten Parteien fällt gegen die überaus aggressive und für die meisten Schichten Oberitaliens auch plausible Spaltertendenz kaum etwas ein — so versuchen sie die Ligen selbst zum Teufel aufzubauen, zum Defaitisten, der Italien schwächt und die Glorie des Landes schmälert.

Das Ausland betrachtet die Entwicklung in Italien bisher vorwiegend in der altgewohnten Weise — als typisch südländische Exotik, Marke: Wird schon wieder in Ordnung kommen, irgendwie haben die's ja immer geschafft. Genau davor aber sollte man sich hüten, wie unlängst auch die sonst eher unhistorisch argumentierende 'Financial Times‘ bemerkte: „Oft schon sind in Italien Tendenzen zuerst sichtbar geworden, die später auch den Großteil anderer Länder erfaßt haben.“

Da ist viel dran — zumal ein erheblicher Teil der Probleme, mit denen Italien kämpft, auch in anderen Ländern in den Vordergrund dringt, vom sinkenden Niveau öffentlicher Dienstleistungen bis zur Zunahme der Schwerstkriminalität, vom Fremdenhaß bis zur Überschuldung der Staatshaushalte. Die Deutschen können ein Lied davon singen.

Und Trends, positive wie negative, hat Italien in seiner Geschichte wahrlich genug gesetzt, um neue Entwicklungen dort mit großer Aufmerksamkeit zu beobachten: 1922 kam der Faschismus zur Macht, elf Jahre danach der Nationalsozialismus in Deutschland; nach dem Krieg ging Italien mit der „Öffnung nach links“ (zu den Sozialisten) der deutschen Großen Koalition um fünf Jahre voran. Es führte Schulreformen, die dann teilweise Vorbild für deutsche, schweizerische und österreichische Modelle wurden, schon Anfang der sechziger Jahre durch, öffnete die psychiatrischen Kliniken, als dies anderwärts noch ein Tabu war, integrierte die Behinderten in die Regelschule — und begann die neokonservative Wende mit ihren Schnitten ins soziale Netz und dem Ende der Innovationen bereits, als sich Linke und Erneuerer in ganz Europa noch auf dem Vormarsch wähnten. Auch die Reichseinigung im vorigen Jahrhundert hatten die Italiener ein volles Jahrzehnt vor der deutschen unter Dach und Fach — durchaus nicht ausgeschlossen, daß ein Erfolg der antizentralstaatlichen Ligen bei den kommenden Wahlen ebenfalls wieder Zeichen setzt.

Möglich aber auch, so hofft jedenfalls der Chefredakteur von 'La Repubblica‘, Eugenio Scalfari, mit einer Initiative „Italia onesta“ (ehrbares Italien), „daß mit einem Erfolg der Gruppen, die gegen Korruption, Mißwirtschaft und Mafia kämpfen, ein Selbstreinigungsprozeß in Gang kommt, der auch nahezu allen anderen westlichen Ländern nicht schlecht täte“.