Ein noch nicht fertiggestellter Bezirk

■ Berlin vor den Kommunalwahlen: Hellersdorf (Teil 12)/ Das Hauptproblem der Hellersdorfer ist die Langeweile/ Schwimmen in den Baufundamenten eines Swimmingpools gehört zu den wenigen Möglichkeiten des Zeitvertreibs

Hellersdorf. High noon in Hellersdorf. Knapp über den grauen Fassaden der Plattenbauten und dem längst zum Biotop gewordenen Müllberg, steht die Sonne. Nur die U-Bahn stört im 10-Minuten-Takt die friedliche Kulisse real existierenden sozialistischen Siedlungsbaus. Die Gegend wirkt wie evakuiert angesichts eines drohenden Reaktorunfalls. Hinter vielen Fenstern fehlen die Vorhänge, vor den Häusern die Blumen und vor den Geschäften der »Kastanienallee« sowohl Kastanien als auch Gehwege. In einem Imbiß auf Rädern verkauft eine Dame vom Grill mitten im Schlamm heiße Würstchen. Auf den Freiflächen zwischen Plattenbauten und Parkplätzen sagen sich auch nur noch Müll und Schrott gute Nacht. Inmitten der Einöde toben sich achtzig bis hundert Kinder auf einem luxuriös ausgestatteten Spielplatz aus. Hellersdorf lebt also doch.

Das Mammutprojekt, in dem heute neunzigtausend Menschen leben, ist das Produkt eines SED-Parteitages. Allen Unkenrufen zum Trotz sollte Berlin in Windeseile um fünfzigtausend Wohnungen bereichert werden. Sämtliche Bezirke der DDR stellten Facharbeiter zur Verfügung. Kehrseite der Windeseile sind undichte Dächer und Fenster, die nicht richtig schließen.

Bevor der Facharbeitertrupp mit den Farbtöpfen anrückte, fiel die Mauer — die Handwerker reisten nach Hause und Hellersdorf blieb grau. Zurück blieben fünf- bis sechsgeschossige Plattenbauten ohne Infrastruktur. Kaum Gehwege, keine Geschäfte, keine Gärten, kaum Grün.

Trauriger Spiegel der Hellersdorfer Unwirtlichkeit sind noch heute die Anfragen und Anträge auf der Bezirksverordnetenversammlung. Wo bleiben die Tankstellen, die Ampeln, Straßen- und Durchfahrtswege, wann ist da und dort mit einem Bürgersteig zu rechnen?

Auch Bürgermeisterin Marlitt Köhnke (SPD) bezeichnet den »Fertigbau der Großsiedlung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen« als vordringliche Aufgabe. Solange die Senatsverwaltung für Bauen die Kompetenzen nicht an das Tiefbauamt übergeben habe, könne man allerdings wenig ausrichten. Derweil warten die Bewohner weiter. Das klingt nach einer Provinzposse. Als »Kasperle des Senats« bezeichnet auch Klaus-Jürgen Dahle, Bezirksvorsitzender der PDS, die Hellersdorfer BVV. »Manchmal ist das richtig lustig, wenn nicht einmal der Baustadtrat weiß, warum nicht gebaut wird«, erzählt Dahle. Wer einmal in Hellersdorf war, weiß, wie weit weg das Berliner Rathaus scheint.

Auch sonst bietet die Hellersdorfer Kommunalpolitik dem zufälligen Beobachter einige Anekdötchen. Mal verteilt der stellvertretende Bezirksbürgermeister Manfred Bittner (CDU) ein Protokoll des Telefonats mit der SPD-Bürgermeisterin Köhnke im Bezirksamt, mal weiß kein Mensch im Rathaus, ob das Hellersdorfer Wuhletal nun zur Olympia-Ruderstrecke auserkoren wurde oder nicht. Doch daß man dagegen wäre, darin sind sich alle einig.

In Hellersdorf werden nicht nur Straßen alter SED-Größen umbenannt. So staunte ein Anwohner der just fertig gebauten Leibnizstraße nicht schlecht, als er nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub feststellen mußte, im selben Haus, jedoch in einer anderen Straße mit einer anderen Hausnummer zu wohnen. Als die Schilder endlich hingen, hatten sich die Verantwortlichen an die Wilmersdorfer Leibnizstraße erinnert und das Hellersdorfer Pendant flugs wieder umbenannt.

Wappen mit Plattenbauten

Ansonsten werden die Bürger in Hellersdorf von den Politikern mit netten Spielchen auf Trab gehalten. Die PDS ruft zum gemeinsamen Anbaden im immer noch nicht fertiggestellten Schwimmbad auf, Marlitt Köhnke läßt derweil Wappen wählen. Für eine »bürgernahe Politik soll ein neues Wappen stehen, an dessen Auswahl sich alle Bürger beteiligen können«, so Köhnke. Auf drei von vier vorgeschlagenen Wappen werden Plattenbauten präsentiert.

»Wir versuchen, aus dem bißchen, das wir haben, das Beste zu machen«, erzählt eine Mitarbeiterin des Bezirksamtes resigniert. Und: »Wir kämpfen mit Dingen, von denen Sie im Westteil nur träumen können.« Seit neuestem verfügt der Bezirk immerhin über ein Kulturforum sowie eine Volkshochschule. Denn auch abends, wenn die Schlafstädter heimkehren, sieht es in Hellersdorf immer noch ziemlich mau aus. Wer weggehen will, bleibt besser gleich in der Stadt. Den Jüngeren sind sechs Jugendklubs geblieben.

In fünf bis zehn Jahren macht sich die größte Gruppe der Hellersdorfer auf den Weg in die Nacht: die heute Sechs- bis Zehnjährigen. Bis dahin muß für die Jugendlichen trotz der Plattenbauten ein attraktives Umfeld geschaffen worden sein. »Es geht doch nicht an, daß die einzig spannende Beschäftigung das S-Bahn- Surfen ist«, erzählt ein Lehrer, wohl wissend, daß noch vor wenigen Wochen ein Hellersdorfer Junge bei diesem gefährlichen Zeitvertreib ums Leben kam.

Viele der Älteren haben schon resigniert und drehen ihrer Wohngegend so oft wie möglich den Rücken zu. »Eigentlich stört es mich gar nicht mehr«, erzählt Cornelia E., Mitarbeiterin in einem Berliner Verlagshaus. »Aber Sie müßten mal meine Kinder hören. Die wissen, wie langweilig ein ganzer Tag in Hellersdorf ist.« Jeannette Goddar

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