Nationalismus — schwarz und weiß

Bodo Morshäusers Essay „Hauptsache Deutsch“  ■ Von Michael Rutschky

In Japan findet sich ein publizistisches, auch wissenschaftliches Genre, das „Nihonjinron“ heißt und in dem sich Einheimische vor Einheimischen intensiv und besorgt darüber Gedanken machen, was es mit den Einheimischen und dem Einheimischsein auf sich hat. Eine Art kollektives Tagebuch mit langen, grüblerischen Eintragungen zur „Japantheorie“.

Bis zum November 1989 hatte die Bundesrepublik ein vergleichbares Genre nicht ausgebildet, genauer: an die reichhaltige Tradition der „Deutschlandtheorie“ anzuknüpfen verschmäht. Deutschland war ja auch untergegangen; ich erinnere mich, wie ich im Schulunterricht der fünfziger Jahre, als von Tacitus Germania oder Madame de Staels De l'Allemagne die Rede war, den deutlichen Eindruck gewann, da werde sowohl von toten Autoren als auch von einem toten Gegenstand gehandelt. Uns aber als Jungmenschen interessierte das Jetzt. Ironisch posierten wir auf einer der obligatorischen Klage-Reisen zurZonengrenze vor dem Warnschild wie unsere Großeltern auf der entsprechenden Jubelreise vor dem Hermannsdenkmal.

Seit November 1989 aber hat sich das Genre der „Deutschlandtheorie“ explosionsartig breitgemacht — seit dem November 1989 ist Deutschland halt wieder in Existenz. Kopf oder Adler. Ermittlungen gegen Deutschland; Angst vor Deutschland; Versprechen auf deutsch; Die Deutschen in ihrem Jahrhundert et cetera et cetera. Die Bücher werden, bis auf ganz wenige Ausnahmen, bald verdorben sein. Allzu hastig sollte das neue Deutschlandbild ausgemalt werden, rosig, grau oder schwarz. My favorite aus der Serie war übrigens Lothar Baiers Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland (Wagenbach 1990).

„Ich bin einsneunundachtzig groß und habe blonde Haare, die ich lieber kurz trage. Manchmal will ich einschätzen, wer mich wie wahrnimmt. Ein Selbsterhaltungsreflex. Ich vergewissere mich, daß ich aussehe, wie ein Deutscher aussieht, und nicht zu befürchten habe, was andere zu befürchten haben. Zum Beispiel Jana. In der vollen U-Bahn wird sie schon mal ,Judenschlampe‘ genannt, und niemand außer ihr hat es gehört.“

So beginnt Bodo Morshäuser seinen sorgsam durchgearbeiteten Beitrag zur „Deutschlandtheorie“, an dem er noch schrieb, als die anderen die ihren längst rausgehauen hatten. Unterdessen hat die Frage, ob du Deutscher bist (und was das bedeutet), den Raum der Vergangenheit verlassen, um bei denen, die sie verneinen müssen, vornehm ausgedrückt, höchst unangenehme Erfahrungen zu zeitigen.

Am 30.März 1988 findet bei GüntherW., 40, wieder eine Sauferei statt. Daran beteiligen sich dessen Freundin MargaT., 43, sein Kumpel ErwinC., sein Sohn Werner und dessen drei besten Freunde. Am Ende des Gelages ist MargaT. tot, infolge der Tritte und Schläge, die ihr vor allem die drei Freunde beigebracht haben in einem Anfall biergestützter Berserkerwut. GüntherW. hatte, mit Sohn und Kumpel, anfangs zugeschaut; dann hatten sich die Täter mit ihrem Opfer ins Nebenzimmer verfügt. Wollte die feministisch engagierte Kollegin hier intervenieren, ein solches Frauenopfer sei typisch für den Selbsterhalt archaischer Männerhorden! — ich müßte ihr zustimmen. Wir befinden uns im Milieu von Schwerverwahrlosten, die sich dem Prozeß der Zivilisation, der normalerweise durch jeden hindurchgeht, erfolgreich haben entziehen können.

Morshäuser erzählt diese Geschichte mit einer leise grausamen Genauigkeit, die sich der Faszination verdankt, die solche präsozialen Verbrechen auf uns Normalmelancholiker ausüben. Georges Bataille hat uns über den gründlich konservativen Charakter solcher Vorfälle wie ihrer Erzählungen belehrt: Wer die Norm so tiefgreifend verletzt, bestätigt sie zugleich auf demselben Niveau. Alles in Ordnung.

Nicht deshalb aber erzählt uns Morshäuser diese Geschichte. Sondern weil die Jungs Skinheads sind oder sein möchten und mit ihrer Tat satt eingebettet in die Auseinandersetzungen der Neonazis, Rechtsradikalen, die vor Ort — Kellinghusen, Schleswig-Holstein — toben. Bald hatte er herausgefunden, wie dort der Neonazismus durch den exentrischen, später offen schizophrenen H.R. gestiftet wurde, der mit Deutschlandfahne und einem Rekorder voll „nationalen Liedguts“ durch das Städtchen patroullierte und Jungscharen hinter sich herzog, weil er sein Geld großzügig für sie ausgab; Kellinghusen, erfährt Morshäuser, wurde früher „Klein-Nürnberg“ genannt, weil hier Aufmärsche für den NSDAP-Parteitag geprobt wurden — bald hat er entdeckt, wie besonders großzügig gerade in Schleswig-Holstein der Staat mit alten Nazis verfuhr nach 1945.

Dies ist der erzählerische Kern des Buches, und der Kern ist hart. Es war Morshäuser nicht bloß um eine „Fallstudie“ gegangen, die schon vorhandenes Wissen über deutsche Kleinstädte und die Gewalttätigkeit von Skinheads hübsch bebildert. Die Geschichte bleibt über alle Interpretationen hinaus bestehen und fordert uns auf, sie zu deuten, denn ihr Kontext ist das vereinigte Deutschland geworden. So lange wir, behauptet Morshäuser, uns der Hauptsache nicht stellen, daß es hier um deutsche Dinge geht, verfehlen wir die Auseinandersetzung. Statt dessen geraten wir in ein Drehbuch hinein, das seit Urzeiten in der Bundesrepublik abrollt und in dem die eine Seite abwiegelt (Morshäuser nennt diesen Part die „Verharmloser“), die andere dagegen zum antifaschistischen Kampf aufruft (die „Übertreiber“), woraufhin die „Verharmloser“ erklären durften, erst die „Übertreiber“ erzeugten das Problem, erst der antifaschistische Kampf provoziere die Krawalle und so weiter und so weiter.

„Jede jeweils jüngere Generation hat einen sicheren Instinkt, wo die Tabus der älteren begraben liegen — und buddelt sie hervor.“ Wie unsereins, jetzt um die Fünfzig, das gemacht hat, ist bekannt. Es gab ja auch genug zu buddeln — und ich muß korrigieren, was ich zu Anfang behauptet habe, daß für uns als Jungmenschen „Deutschland“ einfach ein toter Gegenstand war. Das Wort erfüllte uns mit Haß und Verachtung: Wir jedenfalls, wir wollten davon unberührt bleiben (und waren schon mittendrin). Unvergeßlich, wie im Ice Rink der nordenglischen Stadt Durham zum Schluß „God Save the Queen“ gespielt wurde und dann, weil auch eine Schülergruppe aus der Bundesrepublik Schlittschuh gelaufen war, das „Deutschlandlied“. Man wollte Gastfreundschaft zeigen — aber ich, 17 Jahre alt, konnte nur unter mich gucken vor Peinlichkeitsgefühlen. So hatten wir uns nicht, wie wir dachten, emanzipiert von „Deutschland“, es war ein negativer, schwarzer Patriotismus, der uns erfüllte. Kein Wunder, daß bislang alle Versuche, einen sogenannten gesunden P. hervorzurufen, an unserem zähen Widerstand gescheitert sind.

Morshäuser begreift die Skinheads entschieden als Protestjugendliche, die dem eigentlichen Schema entsprechen, daß die jeweilige Jugend nur via Negation ihren Weg ins Leben findet. Gesellschaftskritik ist ein Sozialisationsmechanismus. Daß die Skins vor allem als Rechtsradikale aufgefaßt werden, verdankt sich komplizierten Aushandlungs- und Zuschreibungsprozessen, an denen unsereins, wie Morshäuser schon an seiner Kellinghusen-Geschichte zeigen kann, intensiven Anteil hat: So ist die Schlagzeile Neonazis erschlagen Frau unbedingt falsch. Wer den Kampf gegen sie aufnimmt, um die zweite Machtübernahme eines zweiten Hitler rechtzeitig zu stoppen, befindet sich im Imaginären, einem historischen Roman.

Wenn wir die Skinheads als Protestjugendliche auffassen — insbesondere dann, wenn sie sich einer rechtsradikalen Rhetorik bedienen —, brechen andere Interpretationen zusammen. Morshäuser hat viel Spott für sie übrig; für unsere linksliberalen Sozialwissenschaftler, wie sie „Modernisierungsschübe“ erfinden, deren Opfer ideologisch notwendigerweise nach rechts gehen. Wieso, fragt Morshäuser zurück, werden eigentlich die Linksliberalen nicht für anomal gehalten, ihre Parolen nicht ideologiekritisch dekonstruiert? Wieso findet jeder Punk in jedem Sozialpädagogen einen verständnisvollen Zuhörer? Während du bloß auf die Straße zu gehen und „Heil Hitler!“ zu schreien brauchst, und schon zeigt dich das Deutsche Fernsehen schaudernd zur besten Sendezeit. Die Hauptsache, das Deutsche ist verdeckt, daraus gewinnt, wer „Heil Hitler!“ ruft, seine Macht. Morshäuser kann Michael Kühnen zitieren, der sich mit diesem Mechanismus vorzüglich auskannte. (Zur Ehrenrettung der Sozialwissenschaftler möchte ich auf den von Werner Graf herausgegebenen Band Wenn ich die Regierung wäre... hinweisen, der schon 1984 bei Dietz erschienen ist und in dem man gleichfalls Auskünfte erhält, die über den einfachen Antifaschismus hinausgehen.)

Lothar Baier hat in seinem oben gelobten Beitrag zur „Deutschlandtheorie“ einige unheimliche Indizien dafür gesammelt, daß die Bundesrepublik, hart gesagt, Auschwitz als eine Art negatives Nationalheiligtum verehrt (entsprechend leicht hat es die Blasphemie). „Ein Wiederaufbaufieber eigener Art hat das Land ergriffen: In Hamburg wird ein Parkplatz geräumt, damit an seiner Stelle die Umrisse der von den Nazis zerstörten Synagoge in den Boden gepflastert werden können... Die Stadt Darmstadt läßt für zehn Millionen Mark eine neue Synagoge bauen und übergibt der jüdischen Gemeinde einen Sekretär, den die jüdische Gemeinde des 17.Jahrhunderts dem Darmstädter Landgrafen zum Geschenk gemacht hatte... Jeder Tag eignet sich künftig zum Gedenk- oder nationalen Feiertag... Die Autoren einer Werbeschrift des Versandhauses Quelle haben das sehr wohl begriffen, als sie im Frühjahr 1990 in ein Geburtstagsblatt für die Kunden des Hauses hineinschrieben: ,Das besondere Ereignis an Ihrem Geburtstag: Heinrich Himmler befiehlt die Einrichtung eines Konzentrationslagers in Auschwitz‘.“ Achten Sie mal darauf, wie häufig wer „im Namen der Opfer“ zu sprechen beansprucht: Meist sind es die älteren Damen und Herren, die ohnehin die ganze Zeit redend zu sehen sind, mit jener Berufung aber zusätzliche Vorteile im Kampf um Redezeit herausschlagen wollen. Dabei definiert es die Opfer, daß sie stumm sind und keiner so ohne weiteres ihr Mandat übernehmen kann.

Ich war 17, als wir uns, auf jener Klage-Reise zur Zonengrenze, spöttisch um das Warnschild gruppierten, als wäre es ein patriotisches Monument. Um diese Zeit bin ich zum „Schulsprecher“ meines Gymnasiums gewählt worden, und in demselben Jahr ging es nach England, wo ich im Ice Rink von Durham von negativem Nationalgefühl überschwemmt wurde. Wenig später wurde ich als Schulsprecher wieder abgesetzt: Bei einer der obligatorischen Klage-Feiern zum 17.Juni hatte ich mich geweigert, ehrfürchtig aufzustehen, als die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ gespielt wurde. Zwar bin ich damals ein paar Tage mit weißer Nasenspitze herumgelaufen, aber insgesamt ist das doch eine Episode aus der success story der Bundesrepublik, nicht wahr, die in dem Wutanfall der Massen kulminierte, als ihnen vom Balkon des Schöneberger Rathauses am 11.November 1989 die Nationalhymne vorgekrächzt wurde.

Die Negation als Sozialisationsmechanismus hat den Vorteil, daß sie stets parat hält, was jeweils auf der linken Seite der Tabelle zu stehen gekommen ist, was immer nicht gilt aber, ist diese Generation einsozialisiert, die positive Orthodoxie zu werden droht. Der Nachteil des Mechanismus ist, daß wir nicht älter werden wollen, daß wir uns nur so mühsam von der Jugend verabschieden können und uns in Kämpfe verstrickt wünschen, die wir längst gewonnen haben. Wäre es nicht herrlich, unsere Nazi-Söhne hätten sich mit unseren Nazi-Vätern verbündet, das Vierte Reich drohte, und wir könnten es so niederringen, daß auch gleich das Dritte ungeschehen gemacht wäre? Das nennt man einen Jungbrunnen...

Kurzum, Bodo Morshäuser hat ein Buch geschrieben, that makes you think, und das müssen wir, wenn wir nicht einfach in Nationalismus schwelgen wollen; und das tun wir, wenn wir, während unsere Väter glaubten, am deutschen Wesen werde die Welt genesen, die Überzeugung kultivieren, niemand anderes als die Deutschen brächten ihr den Untergang. Auch das ist chauvinistischer Größenwahn.

Bodo Morshäuser: Hauptsache Deutsch. Suhrkamp Taschenbuch, 205Seiten, 14Mark.