Kein Schloß hält Ratten auf

■ Die Nager verfügen über eine große Intelligenz und sind sehr lernfähig/ Punks waren die ersten, die fanden, daß die langschwänzigen Biester »sehr schöne, zahme Haustiere« seien

Ausgerüstet mit aller Begabung, in leiblicher und geistiger Hinsicht, sind sie unablässig darum bemüht, den Menschen zu quälen und zu peinigen. Vom Palast bis zur Hütte, überall sind sie zu finden. Weder Mauer, Tür noch Schloß hält sie auf. Wo kein Weg ist, nagen und wühlen sie sich Gänge. Sehr fetten Schweinen fressen sie Löcher in den Leib, dicht zusammengeschichteten Gänsen die Schwimmhäute zwischen den Zehen weg. Junge Enten ziehen sie ins Wasser und ersäufen sie dort. Es sind sogar Bespiele bekannt, daß sie Kinder bei lebendigem Leibe angefressen haben«.

So beschreibt der Zoologie-Klassiker Brehms Tierleben die Ratten in einer 1924 erschienenen Ausgabe. Damals war es noch unvorstellbar, daß Menschen diese Nager einmal für zehn Mark im Zoogeschäft erstehen würden, um sie auf ihren Schultern mit sich herumzutragen. Seit Anfang der 80er sind Ratten in. Erst waren es die Punks, die fanden, daß die langschwänzigen Biester »sehr schöne zahme Haustiere sind, inzwischen sind die Tiere auch bei Hinz und Kunz sehr begehrt«, berichtet die Inhaberin der großen Zoologie- Handlung »Fritsch«. Im Gegensatz zu Hamstern und Meerschweinchen ließen sich die Ratten abrichten, kämen auf Pfiff zum Herrchen und ließen sich gern streicheln. Der Durchschnittsbürger hält es jedoch mit dem alten Brehm. Ratten seien krankheitbringendes Ungeziefer, das hartnäckig bekämpft werden müsse. Ihren Ruf, Boten des Bösen zu sein, haben die Nager seit dem 14. Jahrhundert weg, als sie aus dem Orient die Pest nach Europa einschleppten. Binnen weniger Jahre hatte der schwarze Tod ein Drittel der Bevölkerung hinweggerafft.

Die Haus- und die Wanderratte sind in unseren Gefilden am meisten verbreitet. Ein durchschnittliches Tier wird mit Schwanz etwa 35 Zentimter lang und wiegt 450 Gramm. Die Hausratte hat einen schwarzgrauen Pelz, einen dunklen Schwanz und schwärzliche Füße. Sie ist Vegetarierin und hält sich mit Vorliebe auf trockenen Speichern und Dachböden auf. Weitaus häufiger vertreten ist jedoch die braungraue Wanderratte, mit weißlichem Bauch, längerer Schnauze und fleischfarbenen Füßen und ebensolchem Schwanz, die jeglichen Abfall und auch Fleisch frißt. Ratten sind erstaunlich anpassungsfähig, verfügen über eine große Intelligenz sowie körperliches Leistungsvermögen. Die Nager kommen durch drei Zentimeter (kopf-)große Löcher durch, weiß der Biologe Stefan Endepols. Mit ihren riesigen Vorderzähnen, die ständig nachwachsen, können sie nahzu alles zernagen: Holz und Kunststoff, wie Kabel und Rohre, Leichtmetalle und sogar Beton, sofern dieser noch halbwegs frisch ist. Ratten gelten als ausgezeichnete Schwimmer, können einen Kilometer stromaufwärts paddeln und sich in ruhigem Wasser tagelang an der Oberfläche halten. »Wenn das Wasserbecken jedoch begrenzt und der Rand glatt ist«, so Endepols, »sterben sie binnen Minuten einen depressiven Ertrinkungstod«. Die Wanderratte hält sich mit Vorliebe in der Kanalisation auf und kann durch die Abflußrohre bis zu den Toiletten vordringen.

Die Nagetiere leben in Rudeln von sechs bis fünfzig Tieren und sind polygam. Das stärkste Männchen begattet die meisten Weibchen, die schwächeren werden nur am Rande geduldet. Ein Rattenweibchen kann in einem Wurf bis zu 14 Junge aufziehen, nomalerweise werfen sie zwei bis dreimal im Jahr — bei guten Bedingungen manchmal auch monatlich. Die Tiere sind sehr sozial und den Jungen gegenüber sehr fürsorglich. Der Grund, warum die Schädlinge nicht ausgerottet werden können, liegt an der großen Intelligenz und Lernfähigkeit. Aus diesem Grund werden auch nur vergiftete Köder wie das Pilzgiftderivat Cumarin verwendet, das erst fünf bis sieben Tage nachdem es gefressen wurde, zum Tod führt. Andernfalls würden die anderen Tiere im Rudel das Ableben ihrer Artgenossen mit dem Köder in Verbindung bringen und diesen nicht mehr anrühren.

Wie clever und tolldreist die langschwänzigen Biester sind, zeigt sich auch daran, daß sie ganz genau mitbekommen, wann keine Gefahr droht. In den Landwirtschaftsbetrieben und Fabrikhallen kommen sie pünktlich zu Feierabend aus ihren Verstecken gekrochen. Zweifellos vermag ein Rudel große Schäden in Kornspeichern oder Elektrobetrieben anzurichten. So hat so machnes angenagte Kabel schon zum Kurzschluß geführt, der schwer zu orten war. In den armen Regionen der Welt kommt es auch vor, daß sich die Nager an hilflose Menschen und kleine Kinder heranmachen und diese bei ledendigem Leibe annagen, in unseren Breitengraden ist dies jedoch eine Horrormär. »Ratten haben einen natürlichen Fluchtinstinkt und springen einen Menschen nur im absoluten Notfall an, wenn sie sich völlig in Ecke gedrängt fühlen«, betont Endepols. Anders ergeht es da schon den Säugetieren. Im alten Brehm von 1924 ist von einem Fall in Hamburg die Rede, wo drei junge Elefanten des Tierhändlers Hagebeck getötet werden mußten. Die Ratten hatten den Dickhäutern von unterirdischen Gängen aus die Fußsohlen zernagt. Plutonia Plarre