Mehr Priester am Puls der Zeit?

■ Eine Tagung zum „Mythos Aktualität“ in der Evangelischen Akademie in Mühlheim

Aktualität, Gegenwartsnähe, Zeitbezogenheit — sie sind das tägliche Brot aller Redaktionen und unabdingbarer Bestandteil journalistischer Arbeit. Ohne Aktualität wären die Medien uninteressant. Doch ist der Zwang, aktuell sein zu müssen, auch die stärkste Legitimation für erbitterten Konkurrenzkampf, für groß angelegte Medienspektakel — wie das anläßlich des Golfkrieges — oder das Buhlen um Auflagenhöhe und Lesergunst bei sensationellen Stasi-„Enthüllungen“.

Um das gleich vorwegzunehmen: Die Vorträge dieser Medientagung zum „Mythos Aktualität — Journalismus zwischen Inszenierung und Orientierung“ waren nicht besonders erhellend. Denn der Zusammenhang zwischen Gewinnmaximierung und Auswahl und Präsentation der Berichterstattung wurde außen vor gelassen. Die eingeladenen Referenten — nicht ein einziger Vertreter eines einflußreichen privaten Medienkonzerns — einigten sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer „freiwillige Selbstkontrolle“ der Medien durch die Medien selbst.

Da die Flut der täglichen Informationen immer größer wird, zieht auch die Schnelligkeitsschraube immer mehr an. Daß immer mehr Angebote nicht unbedingt bessere Information bedeuten, haben zahlreiche Untersuchungen belegt. Die öffentlich- rechtlichen Anstalten scheinen sich — auch ohne zwingenden Grund — dieser Tendenz anzuschließen.

Immer mehr, immer schneller, in immer kürzerer Zeit. Dabei hat Schnelligkeit auch mit Gewalt zu tun, so Grete Wehmeyer, Pianistin und Musikwissenschaftlerin aus Köln. Ihre unter Musikwissenschaftlern nicht unumstrittene These: Klassische Musik würde in der Regel doppelt so schnell gespielt wie zur Zeit ihrer Entstehung. Grete Wehmeyer demonstrierte das an einigen Tonbeispielen. Die Wirkung, die ein und dieselbe Komposition, in verschiedenen Tempi gespielt, auf die Zuhörer hat, ist enorm.

Wie Musikschüler werden auch die Konsumenten der Medien auf Schnelligkeit getrimmt. Intensität und Zeit für Reflexion gehen verloren, Besinnung kann sich nicht herstellen. Aber sie ist notwendige Voraussetzung für Korrektur und Umkehr, so Claus Eurich, Professor für Journalistik an der Uni Dortmund. Die Medien selbst seien wichtiger geworden als die Informationen, die sie transportieren; Eurich spricht von einem quasi-religiösen Charakter der Medien und klagt die ethische Verantwortung des Journalismus ein. Ein derart auf Orientierung zielendes Berufsfeld bringe die Verpflichtung mit sich, über veränderte Formen der Berichterstattung nachzudenken. An Alternativen nannte Eurich Askese gegenüber Vordergründigem und der Leiderfahrungen von Menschen. Statt Kriegsberichterstattung wünschte er sich für einige Sekunden einen schwarzen Bildschirm oder eine leergebliebene weiße Seite in der Zeitung. Kritiker werfen Eurich vor, er wolle die bedeutungslos gewordene Funktion des Priesters durch den Journalisten ersetzen.

Am Puls der Zeit sein zu wollen — das kann zu falschen Gewichtungen führen: Weltinteresse gegen das eigene Lebensumfeld. Mit der 'Emder Zeitung‘ stellte dessen Chefredakteur Herbert Kolbe das Modell einer Lokalzeitung vor, das vor rund zehn Jahren mit einer einzigartigen Neuerung hervortrat. Die 'Emder Zeitung‘ bringt schon auf der Titelseite eine gleichberechtigte Mischung aus lokalen und internationalen Themen. Der Begriff der Aktualität hat sich bei diesem Modell von der zeitlichen Ebene auf die der geographischen Nähe verlagert, eine Dimension in den Medien, über die es sich nachzudenken lohnt. Marie Wildermann