Wo die Lampe fußt

■ Einige Überlegungen zur Rushdie-Affäre anläßlich eines gerade erschienenen Buches

Auch die Bibel wurde einmal nicht als Textkörper, sondern als buchstäblicher Leib Gottes begriffen und mit Gewalt verbreitet und verteidigt. Die Amnesie, der wir diesbezüglich verfallen sind, wird zum Teil von Abwehr gespeist (denn es fällt schwer, Verantwortung für einen überwundenen Geisteszustand zu übernehmen), zum Teil von Selbstbewußtsein (in der Überwindung buchstäblicher Lesart bestätigen wir uns als modern und postmodern). Wir respektieren die Symbole der Offenbarung noch als Teil unseres Erbes, von der Offenbarung selbst sind wir erlöst. In der Gewohnheit, Blasphemie gegen das Christentum als Innovation zu begreifen, stehen wir in einer negativen historischen Identität mit jenen christlichen Märtyrern, die an der Hinnahme von Blasphemie und Gewalt gegen ihren verkörperten Glauben sanft gestorben sind. Es gab die Heiligen Kriege, aber auch die gekreuzigten, gesteinigten Leiber mit nach oben gerichteten, offenen Augen. Dem Islam ist diese Art des Märtyrertums unvertraut, wie auch das kritische, das: aufgeklärte Verhältnis zum Text.

Der Koran ist unübersetzbar, die aktuelle Übertragung ins Englische heißt „The Meaning of the Glorious Koran“: das Wort ist unmittelbar, transzendent und nicht von dieser Welt, zumal die Bilder verboten sind. „Christi Stellung als Logos, als ,Wort‘ Gottes, hat auf islamischer Seite die Theorie von der Unerschaffenheit des Koran als des wahren Wortes Gottes befruchtet: was die Person Christi für das Christentum ist, das ist der Koran für den Islam.“ (Friedrich Heiler: „Die Religionen der Menschheit“, Stuttgart, 5.Auflage 1991.) Die kritische Bibelexegese hat die Aufklärung flankiert — so sehr, daß die poetische Qualität des ehemals offenbarten Wortes Gottes sogar von Atheisten gesprächsweise anerkennend erwähnt werden kann.

„Die Satanischen Verse“ also: Kunst im allerhöchsten Sinn

Salman Rushdie als Autor hat unser Bedürfnis nach inhaltlicher wie formaler Sprengung in toto erfüllt und bestätigt: wir begreifen die Blasphemie nicht mehr, die sein Buch — den Protesten nach — bedeutet. Aber wir begrüßen sie als ein Merkmal seiner Kunst (die moderne Sprengung als soziale, inhaltliche, die postmoderne als ästhetische); zugleich hat er uns diskret bewiesen, daß Literatur tatsächlich noch etwas bewirken kann — selbst dort, wo das Lesen selbst, wenn überhaupt, am Koran erlernt wird. In seinem Buch schießen alle Erwartungen und Hoffnungen zusammen, die wir an das geschriebene Wort noch richten. Die „Satanischen Verse“ sind also Kunst im allerhöchsten Sinne, eine postmoderne Attacke des Fortschritts auf jene böse Unschuld des Glaubens, die den Namen Fundamentalismus trägt: ein brauchbares Stigma für politische, religiöse und soziale Erscheinungsformen, die uns nicht geheuer sind.

Eine Dogmatik interpretiert, um Antwort geben zu können. Sie arbeitet einerseits mit funktional unanalysierten Abstraktionen und in dieser Hinsicht unreflektiert. Sie thematisiert ihre gesellschaftliche Funktion nicht, sondern versteht auch sich selbst, ihren Begriff des Dogmas, wiederum nur dogmatisch... Sie beruht andererseits auf der kontextfreien Verwendbarkeit ihres Materials, also auf Distanz zu den Bedingungen, die sie interpretiert.

(Niklas Luhmann:

„Funktion der Religion“)

Das Dogma der Redefreiheit funktioniert allein kontextfrei. Wir haben uns daran gewöhnt, daß laut Paragraph131 des Strafgesetzbuches Schriften verboten sind, in denen Gewalttätigkeit verherrlicht oder andere zum Rassenhaß aufgestachelt werden. Der vorangehende Paragraph130 ist dehnbarer, insofern er jeden bestraft, der „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er [...] zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, [...] sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.“ Der Paragraph166 bietet juristische Abwehr gegen „Beschimpfungen von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen“.

Die Verbindung von Wort (Kunst) und Handlung, die hier gemeint ist, setzt Naivität voraus: das antizipierte Verhältnis von Phantasie und Sublimation zur Tat, — die Frage, ob Gewalt und Sexualität in künstlerischer Verarbeitung sublimierend oder auffordernd wirken — ist selbst eines der Interpretation und wechselt aktuell (auch in der linken Kritik) nach Bedürfnis. Das letzte Lockerung versprechende Verständnis von Sexualität und Gewalt, welches zum Beispiel den Aktivitäten des sog. Aktionskünstlers Nitschke zugrunde lag, wurde, wie die Literatur von de Sade und Genet, noch anders behandelt als Allemanns trauriger Versuch, sich vom Wörthersee- Wasser weihen zu lassen. Die Sprengung des DADA, der empfahl, blindwütig in die Menge zu schießen, ist außerdem schon Kunstgeschichte.

Noch heute mühen sich die Zensoren mit der Unterscheidung ab, ob eine Gewalt- oder Sexszene genügend künstlerisch verarbeitet sei (man vergleiche die Gutachten zu den Übersetzungen von Kathy Acker), um die Freiheit der Kunst genießen zu dürfen. Dabei spielen die Gesichtspunkte der sozialen Erreichbarkeit und damit Wirksamkeit eine nicht geringe Rolle: der Preis eines Buches, seine Erscheinungsform, seine Präsentation im Handel. Die Diskussion um eine Taschenbuchausgabe der „Satanischen Verse“ ist dogmatisch gehandhabt worden. Das Buch war in der Welt, und ein Verzicht auf die Taschenbuchausgabe (wie von Rushdie kurzfristig selbst erwogen und angekündigt) wäre nicht als pragmatische Entscheidung aus sozialen Erwägungen, sondern als Bruch mit dem Prinzip des freien Worts verstanden worden: gib dem Islam jetzt den kleinen Finger. Morgen will er die ganze Welt.

Das ferne Anwendungsgebiet: ein altes Testgelände

Als offizielle religiöse Ideologie der Unabhängigkeitsbewegungen war der reformistische Islam der Ulema (der Rechtsgelehrten) immer auf Seiten der herrschenden politischen Macht: und genau als solcher wird er heute vom islamischen Integrismus angegriffen.

(Sami Nair:

'Lettre International‘, 16)

Man hat weitgehend Einigkeit darüber erzielt, daß die Kolonialisierung arabischer Gebiete und die Isolierung des Islams, seine Reduktion auf eine Ideologie der Identitätsverteidigung, eine verhängnisvolle Verbindung eingegangen sind. Der Islam, ursprünglich eine synthetisierende monotheistische Schriftreligion für Männer, liberaler als das Christentum und von starker Assimilationsfähigkeit, ist Rückzugsgebiet. Die Tatsache, daß seine reformistische Auslegungspartei von der zivilisatorischen westlichen Besetzung profitiert hat, ohne die Modernisierung tatsächlich voranzutreiben, hat dieselbe dort, vor allem im Iran, für lange Zeit unglaubwürdig gemacht. In einer alternativlosen Welt der identischen Produktion, also des äußerlichen Identitätsverlustes, spielt die Imagination von Macht und kultureller Eigenständigkeit eine stärkere Rolle denn je. Alle Teppiche sind käuflich, aber nicht jeder Käufer weiß sie zu benutzen.

Wir wissen das alles, aber „was hilft ein Argument, das die Leute kaltläßt“? (Paul Feyerabend) Während des Golfkrieges hat die Chance, mit dem eigenen Antisemitismus in der Ferne abzurechnen, ihn auszutreiben und zu vernichten, eine nicht unwesentliche Rolle gespielt — bis ins verlautbarte Bewußtsein hinein. Die Identifizierung Saddam Husseins als Teufel in Menschengestalt war eine beachtliche nachchristliche Leistung mit der Autorität des ehemals Linken. Wie groß die Gefahr ist, in die wir uns momentan begeben, ist schwer abzuschätzen. Die christliche Macht selbst hat sich aus der Verfolgung ihrer Ohnmacht gebildet: ein Beweis dafür, daß Imaginationen nicht verschwinden, wenn sie angegriffen werden, sondern sich verhärten. Doch nie war es so einfach, das sozialpragmatische Argument zugunsten des dogmatischen zu opfern. Und nie war es so schön, auf der richtigen Seite zu sein. Der in unsere Welt importierte Konflikt, die Fatwa gegen einen britischen westeuropäischen Staatsbürger, der um sein Leben fürchten muß, ist von wahrhaft beglückender Einfachheit.

Materiale, konkrete Gerechtigkeit

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, mit Schaum vor dem Mund geboren zu sein. Mit dem Gefühl der Demütigung groß zu werden, mit dem der Enteignung und der gewendeten Scham, die der Aggression und des Stolzes bedarf. Gerechtigkeit ist immer nur material, und das Material braucht Zeit, um ins Bewußtsein zu sickern. Vor einem halben Jahrhundert noch wäre die Sprache, mit der heute selbstverständlich, mit sanfter Ergebung, über das Weibliche und seine Unterdrückung verhandelt wird, absurd erschienen: die Rechnungen ändern sich, die Quersummen auch. Ein Buch war immer mehr als ein Buch, darauf beruht unser Sein. Aber wir haben es als Recht und Pflicht zu erachten gelernt, auch Texte zu zerschneiden, die Freiheit des Wortes am Text selbst zu beweisen: Das Buch übersteigt sich selbst als Quersumme der Bücher, entlarvt Geschichte auch als Textgeschichte, die nunmehr zur freien Verfügung steht. „Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Leidenschaften“, schreibt Michael Walzer, Spezialist für die Teilung der Völker.

Von all dem ist die Solidarität mit Salman Rushdie, von der, in ihrer so unterschiedlichen Argumentation, die „Briefe an Rushdie“ zeugen, ganz und gar unberührt. Salman Rushdie weigert sich auf seine Art, zum Märtyrer zu werden — darin der Religion verhaftet, auf die er sich blasphemisch bezieht. Vermutlich unterliegt er einem Mißverständnis, wenn er um das Verständnis der „Masse der einfachen, anständigen Muslime“ wirbt — einem diskurstheoretischen Mißverständnis, weil es die „Satanischen Verse“, das Buch eines modernen Bürgers und postmodernen Autors sind. Aber er appelliert mit Recht an die Politik und an die Unruhe demokratischer Öffentlichkeit, die das Fundament unserer Welt ausmacht. Welcher Art diese Unruhe ist, wie sie sich tatsächlich begründet und äußert, zu welchen Reflexionen sie führt, ist eine andere Entscheidung. Das postreligiöse Bewußtsein — „jene Funktion, die alles entstandene Übel sich selbst zuschreibt“ — ist der Gnade der Unbestimmtheit teilhaftig, der Sozialdemokratie verschuldet, der nicht- jakobinischen Seite der Aufklärung:

wir umgehen Hand in Hand

das gelobte Land.

Richard Webster: Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen. (Im Original: A Brief History of Blasphemy.) Aus dem Englischen von Irene Rumler. Knesebeck Verlag, 206Seiten, geb., 38DM.