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QUERSPALTEDas Samstagssyndrom

■ Eine schwere Neurose und ihre Bearbeitung

Ich bin gestört. Schwer. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen, aber falls Sie mich je bei einem meiner Anfälle erleben... Nein, glauben Sie mir: Es gibt Zeiten, da bin ich völlig normal. Kein Schaum vor dem Mund, kein unkontrolliertes Zucken der Extremitäten, und auch die grünen Pusteln habe ich nicht immer. Mein Therapeut sagt, es gibt noch Hoffnung.

Bevor ich mich zur Behandlung entschloß, war ich kein Mensch mehr. Ich mied verkehrsberuhigte Straßen, um Kinderspielplätze und Sportanlagen machte ich einen Bogen. Nach 400 Stunden quälender Analyse konfrontierte mich mein Therapeut mit seiner Diagnose: extrem auffälliges Verhalten in der Nähe runder, rollender Gegenstände, zurückzuführen auf eine spätkindliche Störung mit fortgesetzten massiven Kränkungen.

In mühsamer Erinnerungsarbeit machte ich mir Dinge bewußt, die ich lange verdrängt hatte. Den plötzlich auftretenden, brutalen Entzug der väterlichen Liebe, die gereizte, leicht kränkbare Mutter, die Grabesstille im Haus bis auf einige unkontrollierte Schreie aus dem Wohnzimmer. Alles immer samstags ab sechs. Diese Erlebnisse hätten mich traumatisiert, sagt mein Therapeut. In der Schule malte ich damals riesige schwarze Bälle, die bedrohlich über blühende Sommerwiesen flogen.

Den letzten Halt in der Familie verlor ich, als meine Schwester mein Vertrauen aufs Schwerste mißbrauchte. Ich hatte gerade Stricken gelernt, und sie überredete mich, ihr einen Schal und Pullover zu machen — in den Farben blau-weiß. Sie zog alles an, nahm ihre Tröte und setzte sich samstags zu meinem Vater vor den Fernseher, wo wildgewordene Männer dieses unaussprechliche Ding jagten. Meine Schwester wurde Papis Liebling. Ich verfiel in tiefe Depression.

In meiner späteren WG ging alles gut — bis zum Wochende. Als meine MitbewohnerInnen sich kollektiv in ihre Trainingsanzüge warfen und den Kasten Bier bereitstellten, lief ich wild schluchzend aus der Wohnung. Endgültig brach meine Neurose aus, als ich mich verliebte. Wie es so ist, am Anfang ist man blind. Doch schon bald bemerkte ich, daß mein Freund übers Wochenende nie wegfahren wollte und am späten Samstag nachmittag sein Telefon abstellte. Als ich seine seelische Grausamkeit entdeckte, bekam ich den ersten schweren Anfall.

Mein Arzt versucht es inzwischen mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Ganz vorsichtig zeigt er mir einen Ball; ich muß ihn anfassen und streicheln. Wenn sich mein Zähnefletschen beruhigt hat, markiert er mit zwei Büchern ein Tor. Er schießt den Ball hinein, und ich muß brüllen. Bascha Mika

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