MIT JELZINS STARKEM MANN AUF DU UND DU
: Jelzin feuert Gaidar

■ Bauernopfer für die Kritiker der radikalen Wirtschaftsreformen

Moskau (taz) — Wenige Tage vor der wichtigen Parlamentsdebatte über die russischen Wirtschaftspolitik hat Präsident Boris Jelzin seinen Chefökonomen versetzt. Künftig werde sich Jegor Gaidar als stellvertretender Ministerpräsident auf seine Arbeit in der Regierung konzentrieren, verlautete am Donnerstagabend lapidar der Pressedienst des Kabinetts. Den Posten als Finanzminister ist der Architekt der wirtschaftlichen Schocktherapie jedenfalls los. Per Dekret nahm Jelzin den erst 36jährigen Superminister aus dem Amt, in dem er immer mehr zur öffentlichen Zielscheibe der Kritik an den Wirtschaftsreformen wurde. Nachfolger wird Gaidars bisherigen Stellvertreter Wassili Bartschuk.

Bereits vor einem Monat hatte der ehemalige Wirtschaftschef der 'Prawda‘ einen Teil seiner Kompetenzen verloren, als Jelzin Gaidars Ministerium für Wirtschaft und Finanzen aufteilte und das Amt des Wirtschaftsministers an Andrej Neschajew vergab. Jetzt scheint Jelzin ein weiteres Zugeständnis seine Gegner gemacht zu haben, denn selbst in der russischen Regierung ist der von Gaidar eingeschlagene Kurs seit langem höchst umstritten. Und der Volksdeputiertenkongreß könnte dem Präsidenten wesentliche Machtbefugnisse entziehen; bei der am Montag beginnenden Tagung wird wieder harsche Kritik an der Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt stehen, die zu einer Preisexplosion und ungewöhnlichen sozialen Härten geführt hat.

Gaidar und sein Team junger Ökonomen, ironisch als die „Jungs mit den lila Shorts“ bezeichnet, hatte dem Land drakonische Maßnahmen zur Sanierung der Wirtschaft verordnet: Der Rubelkurs und die meisten Preise wurden freigegeben, Steuern auf Lebensmittel und andere Waren erhoben, Finanzspritzen an die Industrie drastisch gesenkt und ein Privatisierungsprogramm vorgelegt. Mit den Reformen sollte das Haushaltsdefizit gesenkt, die Währung stabilisert und die eingebrochene Industrieproduktion wieder angekurbelt werden. Doch das Haushaltsdefizit konnte nicht reduziert, der Rubelkurs nicht gefestigt werden. Vor allem die Nationalisten und die ehemalige KP-Nomenklatura fordern weiterhin die staatliche Kontrolle über die Bodenschätze, Industrie und Agrarwirtschaft. Und russische Unternehmer klagten Gaidar an, durch eine zu drakonische Steuerpolitik alle Investitionen bereits im Keim zu ersticken. Gaidar hat seine Entlassung wohl schon geahnt, als er das unvermeidliche Scheitern der gesamten Regierung prophezeite, die seiner Ansicht nach den politischen Preis für die wirtschaftliche Liberalisierung zahlen müsse. Gaidar sei zwar ein Pragmatiker, aber ein wenig zu romantisch, urteilten frühere Kollegen über den Ökonomen. Erwin Single