Tristesse und unendliche Leere im Zentrum

■ Rund um und auf der Bernburger Straße ist alles ein Mißverständnis/ Es ist eine Vorstadt mitten im Stadtzentrum, nur Geister und Zombies bevölkern die Ödnis/ Vielleicht kommt Mercedes, und alles wird ganz anders

Vergessen verliert sich die Gegend um den Anhalter Bahnhof und die Dinge spielen mit der Vortäuschung eines besseren Geschehens, das überall stattfindet — nur nicht hier. Hier ist des Unsäglichen Heimat, hier herrscht »Rudis Resterampe«, hier kann die Musikkneipe »Dschungel« depressiv nie den anderen in der restlichen Innenstadt vergessen. Manisch wiederholt eine Minipizzeria immer nur »Italia '90«. Nie sah man einen Gast in dem Minipizza-Italiener, nie einen Erlösungshungrigen in der Kirche. Statt dessen schlendern schlagerträllernd Jugendliche die Bernburger Straße rauf und runter. Die werden des Nachts umgebracht oder versinken im schönen Großstadtsumpf der Stadt. Doch der ist woanders.

Den schicken M-Bahnhof Bernburger Straße gibt es nicht mehr, der Polenmarkt lebt nur noch fort in den Erzählungen der Alten und das Deutschlandhaus weiß nicht, was es noch soll. So lallt es immer fort nur »Deutschlanddeutschlanddeutschland«. Lustlos kicken vor dem Anhalter Bahnhof ein paar vom Reichstagsgelände vertriebene Fußballmannschaften. Zwei Jahre schon sind vier Etagen der Bernburger Straße 28, in denen früher Theatergruppen, Maler und Musiker beheimatet waren, unbewohnt. Der Besitzer wird wissen, warum.

Rätselhaft ist der Autoradio-Einbauspezialist »Küchler«, seltsam ist der elektronische Spielkram in der SB-Abteilung von »A&Z«. Es gibt das raucherunfreundliche Synanon- Café, einen Biobäckerladen, die sympathische Eckkneipe »Zum grünen Frosch«, das »Berliner Fenster«, das »Café Stresemann«, das »Falstaff« zwei Autoteilverkaufsläden, einen Friseur — das Doppelte kostet's wenn »D. Danziger« Hand anlegt — und zwei Supermärkte. Der Aldi-Markt ist meist relativ leer, weil die meisten denken, bei Aldi müßte man grundsätzlich Schlange stehen. Ein paar Meter weiter steht ein »Euro-Markt«. Der ist fast immer voll, denn jeder denkt, bei »Euro« müsse man weniger lange warten, als bei Aldi. Irgendwann erschrak ich ein bißchen, als ich in der Schlange ausrechnete, daß ich im Jahresdurchschnitt ungefähr einen halben Jahresurlaub bei »Euro« verbringe und daß es bei den anderen hier vermutlich nicht viel anders sein wird. Schnell dreht sich bei »Euro« das Führungskräftekarussell. Staunend verfolgt man als Stammgast auf den Plakaten am Eingang Aufstieg und Fall von Herrn M. und anderen Euromarkt- oder »stellv.« MarktleiterInnen. Eine Zeitlang gab es erregte Diskussionen über das Für und Wider mit funktioneller Musik umspülter Werbesprüche. Die Berieselungsgegner scheinen sich durchzusetzen. Um welchen Preis — das weiß niemand. Selten nur noch hört man jedenfalls zwischen Rumbarhythmusmaschinen und Synthesizergeigen, daß es kein Bier auf Hawaii, wohl aber im Euromarkt gäbe, lang ist's her, daß Euro einem »viel Spaß bei leckeren Schweinereien« wünschte.

Im Blumenladen nebenan feiert man einen traurigen dreißigsten Geburtstag. Laut röhrt eine Maschine vor dem Motorradladen. Drei Videotheken streiten sich um widerwillige Kunden. Im Imbißwagen am Anhalter Bahnhof steht ein freundlicher Türke. Sie nennen ihn »Opa«. Lebensklug und traurig schaut er, wenn der Vierzigjährige aus dem abgefuckten Excelsior-Hochhaus kommt, um sich zum wiederholten Male ein paar Flachmänner und Biers gegen den alltäglichen Kummer zu holen. Jemand kauft Korn »für meinen Hausmeister«. — »Das ist ja besonders schön, daß Sie nur Flachmänner haben. Dann trinkt er nicht so viel.«

In der Stadtmitte ist jeder vierzig. Manchmal ist das etwas gruselig. Zum Beispiel im »Stresemannstübchen«. Die Vierzigjährigkeit der Gäste, die sich hier lustig mit Dartpfeilen bewerfen, ist geradezu beängstigend. Und wie um zu demonstrieren, wie toll sich 40 teilen lasse, haben sie immer zwei Kinder. Dabei oder draußen oder zuhaus.

Neben dem »Stresemannstübchen« lächelt »R&R«, die »freundliche Videothek«. »R&R« ist eine durchaus beliebte Adresse für Privatpornos — von 40jährigen für 40jährige. Ein schnauzbärtiger Dicker steht da und empfiehlt Streifen wie Die Klim-Pimmel-Familie oder den seltsamen Transvestitenstreifen Tante Detlef. Manchmal vertritt ihn seine Frau. Zwei Kinderchen spielen vor dem Tresen. Auf der Theke steht ein Körbchen mit »Kiss«-Lutschbonbons. An der Eingangstür hängt ein sorgfältig gemaltes Schild. Darauf steht, daß die Filme drei Mark kosten ab 21 Uhr, »ausgenommen die Filme in der roten Zone«. Die rote Zone, das sind die neuen, aktuellen Filme. Alle I-Punkte sind herzförmig.

Die Mitte Berlins ist leer und still wie das Auge des Sturms. Nur ab und an freut man sich, wenn zwei Autos an der Kreuzung zwischen Anhalter und Stresemannstraße zusammenkrachen. In den letzten zwei Jahren hat man hier zwar einen Neubau nach dem anderen in bewundernswerter Eile hochgezogen, doch irgendwie wirkt alles ein bißchen zombiehaft oder verschoben. Ins »Stresemann« zum Beispiel geht man nicht um zu trinken, sondern um sich Zigaretten zu holen, in der Tankstelle kauft man sich Tuborg und im Anhalter Bahnhof holt man sich seine Zeitungen (und was die Kinder in den zwei Kindergärten machen, das weiß niemand).

Ansonsten verbirgt man sich in seinen Wohnungen und schaut bis tief in die Nacht durchs Fenster auf die Gäste des Jugendhotels in der Bernburger Straße. Die blicken wiederum wie hypnotisiert in den Fernseher. Ein paar Buchstaben des Hotels sind defekt. Wenn man Glück hat leuchtet es »OEL«. Meist bleibt jedoch nur »EL«. Und irgendwo wartet die S-Bahn-Station »Potsdamer Platz« im rührenden Nirgendwo des ehemaligen Mauerstreifens auf Mercedes und Sony. Detlef Kuhlbrodt