Der Erfinder des Dummen August

■ Ein Besuch auf dem »Dorotheenstädtischen Friedhof II« und beim Zirkuspatriarchen Ernst Jakob Renz

Moderne Friedhöfe pflegen ziemlich langweilig zu sein. Außer mehr oder weniger schlichten Grabsteinen und Kreuzen — versehen mit den Namen, Geburts- und Todestagen der dort Ruhenden — gibt es kaum Hinweise auf Leben, Sterben und Status der Toten. Alte Friedhöfe dagegen, wie der Dorotheenstädtische Friedhof II im Wedding, sind Freilichtmuseen, die den Besucher einladen, die Phantasie von der Leine zu lassen, sich in eine andere Zeitepoche zu versetzen. Da gibt es hochherrschaftliche Grüfte, steinerne Säulen und Bögen, üppige Bepflanzungen, kunstvoll geschmiedete Tore und Türen, auf den Grabsteinen sind stolz Titel und Berufe der Verstorbenen eingemeißelt. Der Dorotheenstädtische Friedhof II — Nummer I befindet sich an der Chausseestraße — ist als »Circusfriedhof« bekannt.

Die Zirkusdirektoren Paul und Barbara Busch liegen hier, Albrecht Schumann, die Artistin Minna Schulze, die als »Wasserminna« bekannt wurde, und das Oberhaupt der Renz-Dynastie, Ernst Jakob Renz. An seinem Grab steht ein hoher Obelisk. Auf dem Stein ist ein Relief eingelassen, es zeigt das etwas steif geratene Konterfei des Zirkusdirektors. Streng blickt der alte Herr vom Sockel auf eine kleine Schar Zirkusfans, die sich vor seinem Grab versammelt haben, um seinen 100. Todestag zu betrauern.

Er hat es nicht leicht gehabt, der Renz, als er 1842 mit seiner Frau Antonetta sein Unternehmen gründete. Die goldene Uhr des Vaters mußte versetzt werden, damit die ersten Kosten zu decken waren. Doch schon 1849, Renz war inzwischen 34 Jahre alt, besaß er einen eigenen hölzernen Zirkusbau in der Kreuzberger Charlottenstraße 90. Das Unternehmen expandierte rasch: 1863 wurde ein steinernes Zirkusgebäude in der Friedrichstraße 141a erworben, das dreitausend Zuschauer faßte. 1879 zog der Zirkus in eine ehemalige Markthalle (Am Zirkus 1): es war das größte Zirkusgebäude Deutschlands für mehr als fünftausend Zuschauer. Es folgten in den Jahren darauf Tochterunternehmen in Wien, Hamburg und Breslau.

Renz, der weder schreiben noch lesen konnte, hinterließ seinem Sohn Franz ein gigantisches Unternehmen und 16 Millionen Goldmark. Der Alte war ein erfolgreicher Geschäftsmann, weil er die technischen Entwicklungen seiner Zeit zu nutzen verstand; sein Zirkus fuhr mit der Bahn und wurde elektrisch beleuchtet — der High-Tech zog die Massen an. Pferderennen mit Preisgeldern sorgten neben dem regulären Zirkusprogramm für Spannung, und die von Renz' Freund Ernst Litfaß erfundene Anschlagsäule sorgte dafür, daß die Attraktionen der Firma Renz lange Gesprächsstoff blieben.

Attraktiv war der Zirkus Renz, weil er ab 1852 Tierdarbietungen, Clownerien und Artistik zu selbständigen Disziplinen entwickelte. Die bis dahin vorherrschenden französischen Zirkusse (eine Erfindung der 1789er-Revolution) boten weiterhin einen in Pomp erstarrten Theatercircus, vor allem für die vornehmen Kreise der Bevölkerung. Renz setzte auf das Massenpublikum, auf die Arbeiterschaft — und verdängte die französische Konkurrenz.

1873 entstand bei Renz die Figur des »Dummen August«. Dieser volkstümliche Clown — großherzig und bauernschlau — wurde bald der absolute Star der Manege. »Meene Klohns macht mir keener nach!« soll Ernst Jakob gesagt haben, als er auf das Geheimnis seines Erfolges angesprochen wurde.

Der alte Renz würde lauthals lachen, wenn er die »Trauergemeinde« an seinem Grab sähe. Ein kleiner Clown steht zuerst etwas verunsichert vor einem Kranz, den Kollege Eberhard Diepgen schickte, aber als die Zirkuskapelle — blaue Uniformen, Pickelhauben — den »Renzmarsch« intoniert, ist es schnell vorbei mit der Friedhofsruhe. Die Freunde des Zirkus klatschen im Takt der Musik, die »Berliner Luft« wird mitgesummt, und die anschließende Polka verleitet ein Paar am Nachbargrab zu einigen Tanzschritten. Kinder kommen von der nahe gelegenen Straße hinzu und bestaunen das seltsame Treiben. »Solange es Kinder gibt, wird es einen Zirkus geben«, hat Charly Rivel gesagt, und diese freundlichen, lebenslustigen Zirkusleute schaffen es sogar, einem Friedhof Wärme und Fröhlichkeit abzutrotzen.

Der alte Zirkus Renz gab am 31. Juli 1897 in Hamburg seine Abschiedsvorstellung. Das Nachfolgeunternehmen, der »Universal Circus Renz«, wurde 1987 gegründet. Ein Ur-Großneffe des alten Renz, Alois Renz, wagte erneut den Sprung in die Manege.

Alois ist der größte Fan seines berühmten Ahnen. Er sorgte dafür, daß die Bundespost zum 100. Todestag des Alten eine Sonderbriefmarke herausgibt. Eine Gedenktafel konnte Alois nicht durchsetzen: auf dem Gelände des großen Zirkusgebäudes in der Friedrichstraße steht jetzt die »Berliner Bank«, und die will nicht an Zirkus erinnert werden. Wer sich so affig anstellt, wäre mit einem guten Direktor eigentlich richtig beraten — auch wenn der nur in Bronze an der Wand hängt. Werner