Künstliche Schattengestalten

■ Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zeigt Bernhard-Marie Koltes' »Quai West«

Wie zur Verletzung bereit, ragen die rostigen Stahlträger in den Raum, und dunkle Löcher klaffen überall wie unheilbare Wunden, als warteten sie nur darauf, alles in die Tiefe zu reißen. An diesem Ort scheint jeder Zuversicht der Boden entrissen. Sicherheit, Geborgenheit und menschliche Wärme sind in eine längst verflossene Vergangenheit gerückt. Die schemenhafte Vorstellung eines zehnjährigen Weltentdeckers wird durch einen einzelnen Nagel in einer ausrangierten Lagerhalle zu Spekulationen über das ihm noch vorenthaltende Leben animiert — für die Mittdreißiger bis Mittfünfziger, die zur jüngsten Premiere der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gekommen sind, bleibt nur der rückwärtsgewandte Blick: Melancholie, Unmut, Überdruß beherrschen Herz und Kopf.

In der ausrangierten Lagerhalle, die hier ihr Sterben ausstellt, gibt es keine Kinder. Tochter und Sohn, Bruder und Schwester — nichts weiter als durchs langsame Sterben ausgehöhlte Funktionen. Hier und da ist eine Physignomie noch jung — doch darunter grinst der Totenkopf.

Die Zerstörung der Ordnung hat ihren Siegeszug hier schon restlos ausgekostet. Zurückgeblieben ist eine Vegetation ohne Fortpflanzung, in der selbst der heiß gewollte Liebesakt nur zum kalten Vollzug der Vergewaltigung gerinnt. Eine wahrhaft sinnstiftende Funktion gibt es nicht mehr. Und wären da nicht die Seile, die im Ungewissen des Schnürbodens verschwänden, das Ganze hätte im wahrsten Sinne keinen Halt.

Koltes' Quai West ist ein Trauma menschlicher Gefährdung und Selbstgefährdung, und in der Inszenierung von Gert Hof saugen uns ganz langsam die flirrenden Baßtöne in die introspektiven Abgründe hinein, während im Saal das rettende Licht langsam verlöscht: eine Geräuschintroduktion, die den Zuschauer von der Vorstellung einer realen Hafensituation quasi unter Wasser zieht und mit spekulativem Gurgeln der traumatischen Unterschicht überläßt.

Koltes' Figuren sind ausgelaugte Rudimente: Kälte, Einsamkeit und Langeweile, Brutalität und die panische Sehnsucht nach Nähe. In die Banalität der theatralischen Grundsituation zeichnet sich Mehrdeutigkeit ein, die der Abstraktion zur Überhöhung, zum Mythos verhilft. Gefühle werden durch die Sprache um- und abgeleitet. Starre Positonen bekommen ihre Monologe oder rituellen Aussprachen. Nichts läuft neben der Sprache — alles ist schon in ihr; sie ist bombastisch, schwelgerisch. Geschichtenfetzen im Wortorkan.

Ein Bankrotteur läßt sich von seiner attraktiv anmutenden Sekretärin in ein verrottetes Hafenviertel fahren. Florian Martens spielt in der grell geschminkten Maske des Alters ein in der High Society kläglich Gescheiterten, der nun am nebulösen Ort den Tod sucht. Er findet ihn in der Gestalt mediokrer Wesen, die hier mit Raub und krummen Geschäften ihr Dasein fristen: Obdachlose, Flüchtlinge aus Spanisch sprechenden Breiten, Outlaws, Todgeweihte allesamt. Als wolle er seine Schuld büßen, liefert der Todestrunkene sich konsequent dieser Unter- dieser Endwelt aus.

Seine Bereitwilligkeit aber stößt auf Mißtrauen: wo so bereitwillig geopfert wird, fehlt der Kampf. Charles (Uwe Steinbruch) ist das Gefühl des Sieges, der Eroberung gewöhnt, das ihm das immer gegenwärtige Stahlrohr in den Fäusten sichert; er will die Rolexuhr, den Jaguar, die Kreditkarten nicht geschenkt. So ist sein Selbstverständnis fundamental bedroht. Als Zeichen dieser verwirrenden Konstellation wird der Lebensmüde aus dem Wasser gerettet und muß sich von einem Mulatten niederknallen lassen.

Unversöhnlichkeit ist der tragende Gefühlsaspekt. Verlorene, vereinzelte Figuren, die durch ein Niemandsland der Endzeitstimmung taumeln, sich benutzend, sich tötend, sich wegwerfend: Antikisierendes Theater mit Stoff von heute.

Trotz der Trostlosigkeit drängen sich auch komische Töne in die künstlich losgetretenen Worttiraden: Die 25 Szenen sind durchmengt mit dem merkwürdigen Liebesgeflüster von Claire und Fak: der kleine Ganove sucht das jungfräuliche Mädchen mit aller der Sprache möglichen Logik zum »Hereinkommen« zu bewegen, während sie vor Verlangen und Unsicherheit die Sache ebenfalls redend verzögert. Dieser buffo taucht zwischen den Bekenntnisarien immer wieder auf, muß aber am Ende natürlich doch seine Komik verlieren, wenn es zur der »Nummer« gekommen ist, die Claire schreckerfüllt überm Geländer gleich einer gewollten Vergewaltigung auf sich nimmt. Später bleibt auch ihr nur der Freitod.

In der ersten Stunde tun sich die Schauspieler schwer, der Textmasse Gestaltung abzugewinnen. Ob's am Hang des Regisseurs gelegen hat, die endzeitgestimmte Atmosphäre durch mätzchenhafte Geräusch- und Klangeinlagen (Musik: Einstürzende Neubauten und die Rainbirds) aufzupeppen? Die Schauspieler sprechen, als memorierten sie einen noch zu spielenden Text (wie es an diesem Haus in letzter Zeit schon öfter zu hören war).

Am besten umgesetzt bleibt das unbedingte theatralischeWollen dieser Inszenierung in der Stille des Mulatten Abad, dem Magne Hovard Brekke die angespannte Körperruhe eines Indianers verleiht. Er begreift alles wortlos, zieht seine Schlüsse und scheint damit die einzige Möglichkeit menschlicher Ausgeglichenheit in sich zu bergen. Unnahbar und gestaltlos, aber doch präsent. Eine Andeutung, ein Provisorium.

Bernhard-Marie Koltes schrieb: »Ich verstehe die Bühne des Theaters ein wenig als einen provisorischen Ort, den die Personen ununterbrochen verlassen möchten...Die Lösungen, die auftauchen, spielen immer außerhalb der Bühne, ein wenig wie im klassischen Theater.« Am Rosa-Luxemburg-Platz zerrt dieses Provisorium ganz entschieden an den Nerven. Und so sehr man das auch für angebracht halten mag, bleibt doch die Annäherung ans Ungewisse derart mühsam, daß sich allmählich die Gewißheit einstellt, die Lösungen müßten außerhalb der Mauern gefunden werden. baal

Nächste Vorstellungen: 11. und 12. April 19 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz