Mit Skepsis gegen Sucht angehen

■ In der Wohngemeinschaft »Zwiebel« leben zehn Frauen mit unterschiedlichsten Abhängigkeiten zusammen/ Frauensucht ist etwas anderes als Männersucht/ Mit Drogen drücken sie Gefühle weg

Zehlendorf. In der »Zwiebel« in Zehlendorf haben Gerichtsvollzieher keinen Zutritt — jedenfalls nicht, wenn sie, wie die meisten, männlichen Geschlechts sind. Denn Männer sind in der Wohngemeinschaft für abhängige Frauen ebenso tabu wie (andere?) Drogen. Kein Alkohol, keine Tabletten, kein Dope, kein Heroin. Nur Zigaretten und Kaffee. Im Gemeinschaftsraum prangt ein vielsagendes Poster an der Wand. »Frau muß skeptisch bleiben.«

Hinter der Frauen-WG mit zehn Bewohnerinnen und vier Mitarbeiterinnen verbirgt sich die Idee, daß Frauensucht etwas anderes sei als Männersucht — egal ob Eßsucht, Heroin- oder Medikamentensucht. »Sucht bedeutet, von etwas abhängig zu sein«, erzählt Therapeutin Kirsten Belger-Koller. »Bei Frauen gehört das zur Sozialisation dazu.« Die meisten, die hier leben, sind nicht nur von einem Stoff abhängig. Sonja, heute 23, hat mit 13 angefangen zu trinken. Mit 14 landete sie zum ersten Mal mit einer Alkoholvergiftung in der Psychiatrie. Später schluckte sie Tabletten, mit 21 hing sie an der Nadel. »Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß ich süchtig sei, hätte ich gelacht«, erzählt sie. Heute weiß sie, daß auch ihre Eßstörungen Suchtsymptome waren. »Daß ich mit dem ganzen Zeugs meine Gefühle wegdrücke, ist mir viel später klargeworden.«

In der »Zwiebel« versuchen die Frauen »ihre Schale abzulegen«, erzählt Kirsten. »Das ist immer auch ein tränenreicher Prozeß.« Fast alle haben ein gestörtes Verhältnis zu Männern: Sie wurden mißbraucht, vergewaltigt, geschlagen, landeten auf dem Strich. Und fast alle finden die Ursache für ihre Sucht nicht in einem Suchtstoff, sondern in ihrer Kindheit. Vernachlässigung, mangelnde Unterstützung durch die Eltern, die Karriere machten oder selbst süchtig waren und sind. »Meine Mutter würde mich hier nie besuchen kommen«, erzählt die 21jährige Nicole. »Sie verdrängt heute noch, daß ihre Tochter eine Therapie macht.«

»Zu Hause mußte ich immer nett sein«, erzählt auch Karin, 27, alkohol- und medikamentenabhängig. »Keine eigene Meinung, immer angepaßt.« Je nach der Stimmung, die von ihr verlangt wurde, hat sie sich dann »die passenden Tabletten reingepfiffen.« Irgendwann war sie drauf und kam nicht mehr runter. »Ich habe noch keine Lebensgeschichte erlebt, in der es nicht massive Gründe für Sucht gab«, bestätigt auch die Therapeutin. In den »Lebenslaufgruppen« finden die Frauen immer wieder biographische Gemeinsamkeiten.

Nach Abschluß der Therapie, die rund zwei Jahre dauert, suchen viele monatelang ein cleanes Zimmer. »Ich kann nicht in eine WG ziehen, in der sich die Bierflaschen stapeln und abends ein Joint geraucht wird«, erzählt Steffi. Der Umgang mit Drogen sei nur schön für die, die Selbstbeherrschung und Kontrolle gelernt haben. »Aber wenn Du einmal drauf warst, geht das nicht mehr.«

In der »Zwiebel« organisieren die Frauen ihr Leben weitgehend selbst. Sie verwalten ihr Geld, erledigen den Haushalt, kommen und gehen, wann sie wollen. Die Erfolgsquote liegt höher als in den klassischen (gemischten) Therapieeinrichtungen. Sonja ist aus ihrer letzten Therapie nach einem Monat rausgeflogen. »Ich hab doch keine Lust, mir rund um die Uhr was vorschreiben zu lassen«, sagt sie.

Die »Zwiebel«-Mitarbeiterinnen, die ihre Klientinnen nur tagsüber betreuen, betrachten Sucht nicht als Krankheit, sondern als »Defekt in der Lebensführung«, erzählt Kirsten Belger-Koller. Die Frauen-WG, die in diesem Jahr ihren zehnten Geburtstag feiert, sei ein Relikt in der Berliner Therapielandschaft. »Den meisten ist das Konzept zu freiheitlich. Drogentherapie wird immer rigoroser — bis hin zu geschlossenen Einrichtungen mit medizinischer statt psychologischer Betreuung.« In der »Zwiebel« legen die Bewohnerinnen ihre Regeln selbst fest. Vielleicht werden also irgendwann auch Männer die Räume betreten dürfen. Aber das ist unwahrscheinlich. Denn »es ist ein schönes Gefühl, wenn Du die Gerichtsvollzieher an der Tür abweisen kannst«, sagt Sonja mit Blick auf das Poster an der Wand. Frau muß skeptisch bleiben. Jeannette Goddar