Die Wunderwelt der Schwerkraft

■ Die Erotik praller Schenkel, der Kampf gegen die Materie und die Existenzfrage des Atlas'/ Beim Meisterschaftsfinale der aussterbenden Spezies Gewichtheber hing der Himmel voller Eisen

Prenzelberg. Wo deutsche Männer schwitzend sich bemühen, sind Frauen meist zur Stelle. Es müssen nicht immer die Chippendales sein. Die TSC-Sporthalle am Samstag gleicht einem Hexenkessel, als die deutsche Mannschaftsmeisterschaft im Gewichtheben entschieden wird. Aus St. Ilgen und Wolfsburg sind Männer angereist, sich mit den Titelverteidigern aus Berlin zu messen.

Alle bringen sie quietschfidele Schlachtenbummler mit, die Halle ist mit 500 Schaulustigen gut ausgelastet. Gleich rechter Hand am Eingang eine kleine Bar mit Bier und Bockwurst, von Zuschauern und Aktiven gern genutzt. Daneben der Gabentisch der Tombola, mit Kühlbox und Autoatlas als Hauptgewinne. Kraftvolle Sponsoren hängen aus, die »Berlin Chemie« empfiehlt ihre Hormontherapeutika. Ein munterer Kommentator peitscht die Stimmung hoch. Über allem aber die spitzen Schreie der Frauen: »Stoß zu!«, und »Hoch!«. Und das dumpfe Seufzen der aberhundert Kilogramm Schwermetall, die nach erfolgreichem Anhub zu Boden poltern.

Die Bühne liegt im gleißenden Licht. Einzeln treten die Athleten vor, kurz und stämmig, vor Kraft und Konzentration strotzend. Entzückende Trikotagen tragen sie, knapp, aber nicht zu knapp. Ganz ruhig liegt das Eisen vor ihnen und stemmt sich mit aller Schwerkraft in den Boden, mächtige Hanteln ohne die Spur von Mitleid. Der uralte und nie endende Menschheitskampf gegen die träge Materie erlebt wieder und wieder eine Neuauflage. Der Kämpfer bückt sich, packt das Eisen und hebt und stöhnt und wuchtet das eiserne Gewicht in den Himmel. Und hält. Und alle Frauen schreien auf, als habe er sie in den siebten Himmel gehoben. Die dramatische Stimmung entlädt sich in donnerndem Applaus. Stolz stößt der kleine Recke seine Faust in die Luft. Er hat es den Frauen gezeigt, dem Eisen und dem verdammten Schicksal sowieso.

Nicht von ungefähr ist Atlas der Patron der Gewichtheber. Jener Mann, dem aufgrund eines unseligen Mißgeschickes auferlegt ist, alle Last dieser Welt zu tragen. Sie preßt ihm die Luft zum Atmen ab, läßt die Adern bedrohlich anschwellen, die Augen hervorquellen. Und ein Seufzer entringt sich der bedrängten Kreatur, die Existenzfrage des Atlas: »Warum gerade ich?« Obwohl Atlas unter den griechischen Göttern nicht der hellste war, fand er schließlich doch einen, dem er die Last überlassen konnte. Hier halten es die Gewichtheber mehr mit Sisyphos. Sie stemmen das Eisen und lassen es fallen und stemmen es gleich noch einmal, von Ewigkeit zu Ewigkeit, bis das die Knochen knirschen.

»Niemand möchte sich mehr dieser Qual unterziehen«, sagt ein Trainer wehmütig. Das Gewichtheben ist hierzulande eine sterbende Kunst. Ein wenig Schwung kam zuletzt in den Sport, als die Mauer fiel, aber in drei Jahren werde man ernste Nachwuchssorgen haben. Mit einem pikierten Lächeln denkt man an die zahllosen Bodybuilder, die nur ihre Muskeln aufpumpen, den Zauber der Schwerkraft aber offenbar nicht begriffen haben. Die Männer, die hier antreten, stemmen täglich etwa 30 Tonnen. In ihrer Freizeit, sonst sind sie im Volkswagenwerk an der Hebebühne tätig. Ein Männerschlag, der in diesem Lande schon seit längerer Zeit heftig vom Aussterben bedroht ist. Nur in den osteuropäischen Ländern wachsen solche Kerle nach. So ist es kein Wunder, daß Bulgaren, Polen und Turkmenen die deutsche Meisterschaft entscheiden. Der eine, Altymurat Oraszdurdiejew, weil er nicht kommen konnte. Im letzten Jahr hatte er maßgeblich zum Berliner Erfolg beigehoben, diesmal war er trotz dramatischer Telefonaktionen nicht mehr aus Turkmenien zu locken.

Der andere kommt, als die Deutschen das Feld geräumt haben. »Jordan Dragnew aus Bulgarien verlangt die 185«, schmettert der Ansager in die Halle, alle Frauen intonieren »Jordan, Jordan«-Sprechchöre und das bulgarische As tritt an die Hantel mit überlegenem Lächeln.

Am Ende hat sein Verein, die Germania St. Ilgen, erwartungsgemäß die Nase vorn, vor den Berlinern und den Wolfsburgern. Doch für alle hängt an diesem Samstag der Himmel voller Eisen. Dann werden Tische und Stühle für die Tombola und ein geselliges Beisammensein beiseite gerückt. Und so kommen auch die Frauen zu ihrem Recht. Olga O'Groschen