Der größte Sieg der Katrin Krabbe

■ Der Rechtsausschuß des Deutschen Leichtathletik-Verbandes erklärt Dopingproben zur Lachnummer: Die Suspendierung von Krabbe, Möller und Breuer ist ab sofort national aufgehoben

Aus Darmstadt Matthias Kittmann

Langer Samstag in Darmstadt.

Das beschauliche Contel-Hotel ist Schauplatz des größten und spektakulärsten Prozesses der bundesrepublikanischen Sportgeschichte. Der Rechtsausschuß des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) hatte zu entscheiden, ob er die Suspendierung von Katrin Krabbe, Grit Breuer und Silke Möller bestätigt oder aufhebt. Die Sperre war am 15.2.92 ausgesprochen worden, da ein begründeter Manipulationsverdacht nach Überprüfung des Dopingtests vom 24.1.92 in Stellenbosch/ Südafrika entstanden war.

150 Journalisten aus allen Ecken der Welt hatten sich in Süd-Hessem eingefunden, von ABC bis ZDF. Und auch der DLV ließ sich nicht lupen. Schließlich sind Rekorde sein Geschäft. So dauerte der erste Verhandlungstag sage und schreibe 15 Stunden. Zu Beginn um 9.30 deutete noch alles auf „business as usual“ hin. Die Vertreter des DLV, Rechtsanwalt Dr. Norbert Laurens und der Vorsitzende der Anti-Doping-Kommission, Rüdiger Nickel, faßten nochmal ihre Argumente zusammen. Die Überprüfung sowohl der A- als auch B-Proben der drei Sportlerinnen beim Dopingpapst Prof. Dr. Manfred Donike in Köln hatte ergeben, daß es sich dreimal um denselben Urin handelte — biologisch unmöglich.

Donike war darauf nur durch Zufall gestoßen, da normalerweise die Proben verschiedener Athleten nicht untereinander verglichen werden. Aufmerksam geworden, stellte er fest, daß auch die Proben des Trios vom Trainingslagers in Zinnowitz im vergangenen Jahr identisch waren. Für den DLV ein klarer Hinweis auf Manipulation.

Gegen die Analyse selbst hatte die Gegenseite, vertreten durch den ehemaligen Präsidenten von Borussia Dortmund, Dr. Reinhard Rauball, nichts einzuwenden. Dafür wartete sie aber mit einer 60 Seiten starken Antragsschrift auf, in der eine Summe von Verfahrensfehlern aufgelistet wurde. Ins Kreuzfeuer gerieten dabei die Aussagen der kontrollierenden Ärztin Dr. Bindeman, die in Darmstadt nicht anwesend war. Zunächst hatte sie eine verschiedene Färbung der Urinproben attestiert, dann jedoch richtiggestellt, daß sie von vier Proben sprach, von der nur eine divergierte, die jedoch die unbeanstandete von Sigrun Grau-Wodars gewesen sein könnte. Hinzu kam, daß die Kontrolleure in Südafrika keine Vollmacht des Internationalen Verbandes (IAAF) hatten. Die Glasflaschen wurden zudem nicht von den Sportlerinnen versiegelt, sondern von Dritten verschraubt. Obgleich der Flug nach Köln nur 12 Stunden dauert, kamen die Proben erst fünf Tage später im Labor von Donike an, wo sie „vermutlich von einer studentischen Hilfskraft“ (Donike) geöffnet wurden. Donike erklärte außerdem, daß der Verschluß der Tasche nicht als Siegel zu erkennen gewesen war.

Den härtesten Schlag gegen die Indizienkette des DLV versetzte Dr. Rauball, als er aus dem Jacket zog, was bisher als ausgeschlossen galt: identische Duplikate der Original- Versiegelung mit gleicher Kontrollnummer und gleichem Aussehen. Damit ist zumindest theoretisch möglich, daß ein unbekannter Dritter die Siegel und vor allem den Inhalt ausgetauscht haben könnte.

Verblüffung im Saal. Dann die Frage, Wer ist der große Unbekannte? Gegen 18.30 Uhr zieht sich der Rechtsausschuß, bestehend aus den Vorsitzender Günter Emig mit seinen zwei Beisitzern Erwin Rixen und Walter Lenz zur Beratung zurück. Um 19 Uhr kehrten sie mit einer weiteren Überraschung zurück: Sie schlagen einen Vergleich der beiden Parteien vor, wobei die Sperre auf drei Monate reduziert werden würde. Sie wäre damit am 15. Mai 1992 beendet, und das Sportlerinnentrio könnte bei den Olympischen Spielen in Barcelona auflaufen.

Am Stadtrand von Darmstadt roch es gewaltig nach Kuhhandel — zumal von der Sportlerseite Zustimmung angedeutet wurde. Blieb also nur noch die Frage offen, wie weit sich der DLV nun blamieren wollte, ganz zu schweigen davon, ob der IAAF diesem Vergleich zustimmen würde. Ihr Beobachter, Mark Gay, konstatierte trotz aller Zurückhaltung: „Diese Regelauslegung war mir bisher nicht bekannt.“ Was nichts zu bedeuten hat: Schließlich sind weder dem IAAF noch dem DLV die eigenen Regeln bekannt: Die vierjährige Sperre gegen Krabbe und Co., vom DLV ausgesprochen und dem IAAF übernommen, darf laut Reglement höchstens zwei Jahre betragen. Die Vierjahresregelung nämlich wurde in Tokio zwar beschlossen, aber nicht fristgemäß niedergeschrieben. Gegen 20 Uhr lehnte der DLV den Vergleich ab und stellte zwei neue Beweisanträge zur Klärung der Siegelfrage und zu den Aussagen der kontrollierenden Ärztin. Im Gegenzug erläuterte Rauball in einem eineinhalbstündigen Plädoyer, warum er nun die generelle Rücknahme der Suspendierung beantragt. Begründung: Grob mangelhafte Indizienkette, der große Unbekannte hätte jederzeit zu den Proben Zugriff gehabt.

Dagegen hält der DLV, die drei identischen Proben hätten zwei von den Athleten kurz zuvor angegebene (legale) Medikamente enthalten. Woher hätte dies der große Unbekannte wissen sollen? Weiterhin hätte er den Transportweg kennen und außerdem Zugang haben müssen, um möglicherweise Proben und Inhalt auszutauschen. Nach menschlichem Ermessen unmöglich. Ein klassischer Patt: Einerseits könnten die Proben ausgetauscht worden sein, andererseits konnten nur die Athletinnen und ihr Umfeld wissen, welche Substanzen auch die Doubletten enthalten müssen.

So war die Entscheidung, die Emig zu treffen hatte, zugegebenermaßen keine leichte. Doch wo Souveränität in der Sache gefragt gewesen wäre, machten Beobachter bei Emig eher Unsicherheit aus. Einen Eindruck, den er bei seinem Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“ verstärkte: Dort weigerte er sich gar, über belanglose Sachen zu sprechen, die bereits breitgekaut waren.

Von Unsicherheit geprägt scheint schließlich auch das Urteil: Am Sonntag, um 12.35 Uhr hob Emig die Suspendierung der Sprinterinnen mit sofortiger Wirkung auf. Die Begründung: Der südafrikanische Verband sei nicht ermächtigt gewesen, im Auftrag anderer Dopingkontrollen durchzuführen, da er selbst zu diesem Zeitpunkt von der IAAF suspendiert gewesen sei. Im übrigen könne ein Regelverstoß nicht schlüssig nachgewiesen werden, da die Indizienkette zu lückenhaft sei.

Katrin Krabbe und Co. („wir sind glücklich“) haben den größten Sieg ihrer Karrieren ihrem Anwalt zu verdanken. Der DLV hingegen ist zum einen blamiert, zum anderen völlig entzahnt worden. Denn mit dieser Entscheidung ist Dopingsündern praktisch alles erlaubt, außer man erwischt sie in flagranti mit der Spritze im Arm. Rüdiger Nickel vom DLV fällt zu diesem Urteil und der darauf folgenden Frage, ob Dopingkontrollen nun abgeschafft werden können, nichts mehr ein: „Mir fehlen die Worte, ich muß mich erstmal setzten.“ Ebenfalls sprachlos zeigte sich Mark Gay von der IAAF, dessen Organisation es nun obliegt, die Entscheidung des DLV-Rechtsausschusses auch international zu übernehmen oder aber nicht. Noch sind die Sprinterinnen auf internationaler Ebene gesperrt, sprich: auch für Barcelona. Entscheidet sich auch der IAAF Ende Mai in Toronto für Krabbe und Co., so kann man Zukunft das Geld für Dopingproben getrost einsparen.