KOMMENTAR
: Prekäres Gleichgewicht

■ Der Tarifkompromiß im Arbeitskampf der Bankangestellten — ein Testfall

Der Tarifabschluß im Bankgewerbe mit seinen 5,4 Prozent plus Beiwerk ist so unauffällig, daß er vom Inhalt her kaum der Erwähnung bedürfte. Niemand wäre reich geworden, wäre der Abschluß gemäß den Forderungen der Gewerkschaften ein bißchen höher ausgefallen. Weder die deutsche noch die Weltkonjunktur wird durch ihn beeinflußt. Und mit der Wirtschaftssituation in Ostdeutschland hat der Tarifvertrag nur insoweit zutun, als er zum 1. April auch in den neuen Ländern wirksam wird. Das zweimonatige Tauziehen um minimale Differenzen hatte wenig mit realen ökonomischen oder sozialen Größen zu tun, aber sehr viel mit dem Austesten der Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zwischen unternehmerischer Macht und Gesellschaft im vereinigten Deutschland.

Gerade deswegen wird der Kompromiß von Samstagnacht in die Sozialgeschichte Deutschlands eingehen. Denn er kam — wenn man von den niedrig bezahlten Kaufhaus-Angestellten absieht — nach dem ersten großen, eigenständigen Angestelltenstreik der Nachkriegszeit zustande. Die Tarifauseinandersetzung bei den Banken war von den Arbeitgebern wegen des gewerkschaftlichen Organisationsdefizits in der Branche, wegen der besonderen Identifikation vieler Bankangestellter mit ihren Instituten auserkoren worden, eine allgemeine tarifpolitische Wende durchzusetzen.

Dies ist auf Grund einer bisher nie dagewesenen Mobilisierung der Bankangestellten mißlungen, aber nur knapp: Die Streikbereitschaft war für die Verhältnisse der Branche hoch, aber sie war nie so hoch, daß man von „Erzwingungsstreik“ hätte sprechen können. Die relative Wirkungslosigkeit der gewerkschaftlichen Nadelstiche ließ nach Wochen die Resignation wachsen. Aber erfolglos waren die Aktionen auch nicht. Die Bankmanager mußten einräumen, der Streik sei ihnen „lästig“ gewesen, sie haben mit Blick auf Betriebsklima und Betriebsabläufe das im Februar beschlossene Tarifdiktat nicht durchgezogen.

So zeigt sich eine ambivalente Situation: Einerseits sind die Gewerkschaften durch die ostdeutsche Misere in die Defensive gedrängt, andererseits ist ihnen außerhalb ihrer industriellen Stammklientel in den Arbeiterbereichen inzwischen neue Kraft zugewachsen. Der Abschluß spiegelt ein noch unentschiedenes, labiles Gleichgewicht zwischen den Tarifparteien, zwischen unternehmerischen Interessen und gesellschaftlichen Ansprüchen — ein Gleichgewicht allerdings, das von führenden Kräften der Wirtschaft eigentlich nicht mehr gewollt wird. Martin Kempe