Szenen eines Krieges

Der Tag der Newroz-Feiern im kurdischen Cizre und Sirnak — ein weiterer Stein im Mosaik der kurdischen Wahrnehmung als Unterdrückte und Verfolgte.  ■ VON ÖMER ERZEREN

Ein Staat kann terroristisch sein. Ein terroristischer Staat kann die Presse knebeln und eine Hofberichterstattung sicherstellen. Doch auch eine angeblich freie Presse kann ohne Zwang von Seiten des Staates Terrorismus betreiben. Genau dies geschah in der Türkei nach dem blutigen Newroz, als in verschiedenen Städten Kurdistans das türkische Militär auf kurdische Demonstranten schoß. Nicht nur wurden in den Medienberichten die Opfer verhöhnt.

1) Medien-Legende und Medien-Terrorismus

„Dies ist kein Fest, dies ist ein Aufstand“, titelte 'Milliyet‘ am 22. März. „Ab jetzt muß das blutig niedergeschlagen werden“, zitiert die Zeitung den türkischen Staatspräsidenten Özal am folgenden Tag in voller Überzeugung von der Richtigkeit der Aussage. Am nächsten Tag wird ein Interview mit dem pensionierten Kenan Evren, vormals (erfolgreicher) Putschistengeneral aufgefahren: „Dies ist ein Aufstand. Und es ist klar, wie man einen Aufstand niederschlägt. Man muß in der Sprache reden, die sie verstehen.“

Sie — das sind die Kurden. Unter dem groß aufgemachten Interview mit dem Putschisten folgt eine Schlagzeile, die verheißt, das alles auf besten Wege ist: „Die Ausmerzungsoperation“. Die faschistoide Terminologie dringt durch die Druckerschwärze. „Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Aufstand sich auf die Massen ausbreitet oder wie ein bösartiger Tumor herausoperiert wird“, kommentiert Oktay Eksi am 24. März in 'Hürriyet‘, einer der größten Tageszeitungen des Landes. Die „Operation“ hat laut Zeitung schon begonnen: „Die Guerilla wird gesäubert. In jedem einzelnen Haus Terroristenjagd“ ist die Schlagzeile des Tages. Drei Tage später verkündet das Blatt in großen Lettern die „Heilsbotschaft“: „Cizre ist erledigt“. Cizre ist weder der Name einer Person noch der einer illegalen Organisation. Cizre nennt sich eine kurdische Stadt am Tigris, die heute von Panzer aus deutscher Produktion kontrolliert wird. Aber wie „erledigt“ man eine Stadt?

Im Taumel von Nationalismus und Chauvinismus ist selbst das Widerwärtigste heilig: „Zwei Terroristen nicht beschnitten“ heißt der Titel einer kurzen Meldung in 'Hürriyet‘: „Es kam zum Vorschein, daß zwei der Terroristen, die während der Newroz-Vorfälle starben, nicht beschnitten sind. Verantwortliche der Polizei kommentierten, daß Ausländer ihre Finger im Spiel haben könnten. Ein hoher Polizeibeamter sagte: ,Aufgrund des Umstandes, daß die Terroristen nicht beschnitten sind, besteht die Möglichkeit, daß es sich um Nicht-Moslems, ja gar um Armenier handelt.‘“ Das Feuer des rassistischen Völkerhasses läßt sich in der Kombination des „armenisch- kurdischen Terroristen“ wohl am einfachsten entfachen. Einer der so präsentierten toten Terroristen war der 17jährige Ramazan Kahraman. „Wir sind Moslems. Mein Sohn war noch ein Kind. Deshalb war er nicht beschnitten“, sagt sein Vater Mehmet Kahraman. Sein Sohn sei von Polizisten festgenommen worden, und vier Tage später habe man ihm seine Leiche im Leichenschauhaus gezeigt: Ramazan Kahraman hatte eine Schußwunde im Nacken.

2) Sirnak, Türkisch- Kurdistan, der 27. März

Reisebuchautoren würden ganz sicherlich von der „malerischen Landschaft“ schwärmen, wenn sie das kurdische Sirnak kennen würden. Im Gegensatz zur Nachbarstadt Cizre, einem tristen, grauen Fleck in einer Ebene gelegen, sitzt Sirnak auf grünen Hügeln. Fast von jedem Standort aus hat man einen Blick auf die gewaltigen Gebirgsmassive, deren Spitzen oft mit Schnee bedeckt sind. Doch den schönsten Ausblick in Sirnak bot die kleine Friedhofsanlage mit ihren großen Bäumen im Stadtzentrum. Doch vor Jahren wurden auf Geheiß des Militärs die Bäume in gefällt. Schließlich könnten sich Terroristen dahinter verstecken. Seit Jahren schon wütete in Türkisch- Kurdistan die Militärstrategie der verbrannten Erde. Thujabäume, Fichten, Pistazien wurden in Brand gesteckt. Mein Freund und Kollege Mustafa Gürbüz hat wenige Tage nach dem blutigen Newroz die Stadt besucht und einen Bericht geschickt:

„Nach dem Dauerfeuer von 24 Stunden gibt es kaum ein Haus, das nicht von Kugeln getroffen ist. Mörser haben Betondächer durchbohrt. Die Scheiben aller Geschäfte sind kaputt, die Geschäfte geplündert. In den Straßen sieht man überall ausgebrannte Fahrzeuge. Die Menschen wirken nach dem Dauerfeuer depressiv. Die Kinder sind völlig verstört. Ich besuchte das Haus des Stadtverbandsvorsitzenden der ,Partei des rechten Weges‘, Orhan Uysal. Man kann kaum glauben, daß jemand heil aus diesem Haus rausgekommen ist. Ob Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer oder Küche — alles von Kugeln durchlöchert. Vom Polizeipräsidium, von den Panzern auf der Straße und von der Militärkaserne aus wurde geschossen. Ein Mann namens Sabri mischt sich ins Gespräch: ,Von einem PKK-Angriff kann nicht die Rede sein. Das Militär hat mit dem Schießen begonnen‘“. Die meisten Teilnehmer am Newroz waren sowieso Frauen und Kinder. Doch für den Staat ist jeder Kurde, gleich ob Frau oder Kind, die PKK.“

3) Ankara, Hauptstadt der türkischen Republik

Hochoffizieller Bericht einer Parlamentarierdelegation der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, SHP, die vor Ort sondieren sollte. Die SHP ist Koalitionspartner in der Regierung Demirel. Teilnehmer der Delegation waren hochrangige Funktionäre, wie etwa der stellvertretende Generalsekretär Ercan Karakas und der Finanzchef der Partei, Ziya Halis. Aus dem Bericht über Sirnak:

„In den frühen Morgenstunden wurde der Platz, wo sich das Denkmal befindet, von den Sicherheitskräften abgesperrt. Die Bevölkerung, die dort Newroz feiern will, wird nicht auf den Platz gelassen, ohne vorher einer Leibesvisitation unterzogen zu werden. Eine Gruppe will sich der Leibesvisitation nicht fügen und überwindet die Barrikade der Sicherheitskräfte. Daraufhin ziehen sich die Sicherheitskräfte zwei bis drei Meter zurück und beginnen, auf die Bevölkerung zu schießen. Augenblicklich sterben dort 17 Personen, und eine Reihe von Personen werden verletzt. 22 Stunden ist in Sirnak geschossen worden.

In Nusaybin rollen und schießen Panzer auf Menschen. Gewählte Repräsentanten, wie Bürgermeister, Mitglieder des Stadtrates und die Stadtverbandsvorsitzenden, egal welcher Partei, berichten übereinstimmend, daß die Sicherheitskräfte die Vorfälle inszeniert haben und daß das Feuer von ihnen ausging. Die Gouverneure behaupten dagegen, daß PKK-Militante verantwortlich für die Ereignisse sind. Diese Beamten glauben den Schilderungen der Polizei. Sie haben ohnehin gegenüber dem Militär und der Polizei jegliche Autorität verloren.“

Doch der Bericht wird sicherlich schnell in der Versenkung verschwinden. Der stellvertretende Ministerpräsident und Parteichef Erdal Inönü sprach ihn betreffend davon, daß „sich unsere Freunde wie in der Opposition fühlen“. Dabei gibt es, egal ob für Regierungspartei oder Opposition, nur eine Antwort auf die eine Frage: Wer hat geschossen? Wer ist verantwortlich für das Massaker?

4) Ankara, 28. März, Pressekonferenz des türkischen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel

„In der vergangenen Woche ist es an verschiedenen Orten unseres Landes zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Dem Umstand, daß die ansässige Bevölkerung im Südosten sich den Provokationen und Drohungen der bewaffneten Mörderbande, die Newroz für ihre bewaffneten Aktionen gegen den Staat instrumentalisieren wollte, nicht fügte, ist es zu verdanken, daß die Ereignisse sich nicht ausweiteten. In einem demokratischen Regime kann es nie rechtens sein, gegen die Sicherheitskräfte die Waffen zu ergreifen. Ich habe allen unseren Bürgern Demokratie, Achtung vor den Menschenrechten und Gleichheit vor dem Gesetz versprochen.

In keinem Nachbarland, wo Verwandte unserer Bürger, die sich kurdischer Abstammung zählen, leben, gibt es kein Regime, welches solch ein Wort halten könnte. Deshalb darf der Wert des türkischen Regimes und der Regierung nicht gering geschätzt werden.“ Man könne Mücken nicht einzeln töten, man müsse ihr Nest ausräuchern, hat der gleiche Ministerpräsident bezüglich der PKK gesagt.

Wer ist die PKK, die wie einen „böser Tumor“ herausoperiert beziehungsweise „ausgeräuchert“ werden soll? Eine Terrororganisation, die ihre Ideologie aus einem verwesenden „Marxismus-Leninismus“ speist? Eine nationalistische Organisation? Oder legitime Interessenvertretung des unterdrückten kurdischen Volkes in der Türkei?

5) November 1991, PKK-Lager an der irakisch-türkischen Grenze

Um eine Wasserquelle ist das Lager errichtet: 15 provisorische Zelte, errichtet aus Ästen und Plastikplanen. In dem Lager leben rund 200 Guerilleros, darunter 50 Frauen und Mädchen. 14jährige lernen den Umgang mit Kalaschnikovs. Die überwältigende Mehrheit dürfte nicht älter als 18 Jahre alt sein. In unserem Zelt hängt ein vergilbtes Plakat: „Es lebe der Aufstand des kurdischen Volkes“. Daneben ein Foto des vergötterten Führers der Bewegung: Abdullah Öcalan. Vom „Volkskrieg“, vom „Revolutionären Kampf“, von der „Befreiung Kurdistans“ ist die Rede in allen politischen Diskussionen. Die Unterdrückung, die Entwürdigung, denen die Kurden in der Türkei ausgesetzt sind, brachte sie hierher.

Der 35jährige Mustafa hat bis 1989 im Gefängnis verbracht. Nach dem Militärputsch 1980 saß er im Militärgefängnis Diyarbakir ein. Den berüchtigten Folterknecht Esat Oktay Yildiran, der vor wenigen Jahren erschossen wurde, und seinen Schäferhund „jo“ kennt er noch aus eigener Erfahrung — die Tage, in denen die Wärter mit Eisenstangen auf die Gefangenen prügelten, als je fünf Gefangene Wochen in ihrem eigenen Kot in Vier-Quadratmeter-Zellen verbringen mußten, und der Schäferhund wild auf sie einbiß. 30 Gefangene sollen unter dem Kommando Esat Oktay Yildirans damals ermordet worden sein. Ich frage Mustafa, ob er nicht Rache gegenüber Türken empfindet. „Nein. Vielleicht kann man dem türkischen Volk vorwerfen, daß es sich nicht geregt hat. Doch es ist nicht schuldig. Wir hoffen auf eine gemeinsame Zukunft.“

Im Lager traf ich auch die 13jährige Ayten, die schon seit fünf Monaten ihre Guerillaausbildung absolvierte. Ihr kurdisches Dorf war stets Ziel von Gewaltmaßnahmen des türkischen Militärs. „Wie bist du zur Guerilla gekommen?“ „Ich habe meinem Vater gesagt: Ich gehe. Er hat ja gesagt.“ „Warum bist du hier?“ „Weil ich mein Volk retten will.“ „Hier schläfst du auf Steinen. Ist es zu Hause nicht schöner?“ „Zu Hause bestimmt immer der Vater. Wenn der nicht da ist, mein älterer Bruder. Doch hier bei der Partei bin ich frei.“ „Hier gibt es doch auch Disziplin und Vorgesetzte.“ „Ja, aber hier kann ich später auch Kommandantin werden.“

Nicht nur Kurden aus Kurdistan haben sich der Guerilla angeschlossen. Viele stammen aus dem Westen der Türkei. Die mittelbare Diskriminierung war es, die sie zur PKK brachte. Die PKK-Guerilla ist fest etabliert und hat sich institutionalisiert. Freudentränen fließen, wenn Väter kommen, um ihre Söhne und Töchter, die wie beim Militär ihren Dienst leisten, zu besuchen.

6) Kaffeehaus in Istanbul, wenige Tage nach Newroz

„Man sollte die Kurden ausrotten“, sagt der junge Mann. Sein Dialekt verrät, daß er kein gebürtiger Istanbuler ist und der Schwarzmeerregion entstammt. Millionen — Türken wie Kurden — wanderten in den vergangenen Jahren, den Traum von einem besseren Leben im Kopf, nach Istanbul ein. Auch er. Er weiß, wo es politisch langgehen muß: „So kann das nicht weitergehen. Schaut euch an, was zu Newroz passiert ist. So wie früher sollte man es machen. Von der Luft aus alles zubombardieren.“ Ein besser gekleideter Herr mischt sich ein. „Das ist nicht nötig. Sollen sie doch ihr Kurdistan haben. Dann will ich aber auch alle Kurden aus Istanbul raushaben. Sollen sie doch im Südosten vor sich hin schmoren.“

7) Göldere, Siedlung am Rande des Industriegürtels von Istanbul, nach Newroz

Auf der Wiese weiden die Kühe. Jeder Haushalt hat Hühner. Die Siedlung, in der heute rund 5.000 Menschen leben, entstand vor etwa zehn Jahren. Ein „gecekondu“-Viertel, eine Ansammlung von Häusern, die ohne Baugenehmigung und ohne Infrastruktur auf das freie Feld gebaut wurden. „Die Meerluft behagt uns nicht. Wir sind in den Bergen aufgewachsen“, erzählt mir einer aus der Männerrunde, die sich auf einem Teppich auf der Weide niedergelassen hat. Göldere ist ein kurdisches Ghetto in Istanbul. Die Kinder heißen Mazlum und Beriwan, benannt nach gefallenen Guerilleros. Wie im kurdischen Cizre erheben auch hier die Kinder ihre Hände zum Victory- Zeichen um „Biji Apo“ — „Biji PKK“, „Es lebe Apo“ — „Es lebe die PKK“ zu rufen, wenn sie einen Fremden erblicken. Man will mich auf etwas hinweisen. „Du siehst, dies ist Kurdistan.“

Ganze Dörfer aus Siirt und Mardin sind mit all ihrem Hab und Gut in die Großstadt gezogen. Vertreibung und Armut hat sie hierher gebracht. Als Straßenhändler oder Gelegenheitsarbeiter schlagen sich die Männer durchs Leben. Kein Wunder, daß Göldere ein „verdächtiges“ Viertel ist. Kein Wunder, daß die Polizei hier PKK-Sympathisanten vermutet und Razzien durchführt.

Der 37jährige Memduh Yașar führt mich in sein Haus, dessen Schloß jüngst von der Polizei aufgebrochen wurde. Er und seine zwei Brüder wurden festgenommen und auf dem Polizeipräsidium Istanbuls gefoltert. Sie wurden bezichtigt, Geld für die PKK herbeizuschaffen. Die polizeiliche Aktion diente der Einschüchterung. Nach drei Tagen Tortur kamen sie frei. Doch die frommen Kurden aus Göldere erinnern sich immer noch an die Worte des islamischen Geistlichen, als sie ihn um Hilfe baten. „Ach, das ist ein kurdisches Viertel? Dann ist das normal.“