Großmütter „gibt's schon seit der Revolution“

Unser Moskau-Korrespondent guckt fern und weiß die tragende Rolle der russischen „Babuschkas“ zu würdigen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Schönheitswettbewerbe oder „Miißwahlen“, wie die Russen sagen, gehörten zu den ersten westlichen Kulturimporten nach der Öffnung. Unumstritten auch bei der ansonsten nicht libertären Parteinomenklatura anno dazumal. Bis heute konnten sich die entwöhnten homines sovietici daran nicht sattsehen. Alle naslang präsentiert das Fernsehen das „Beste, was das Land zu bieten hat“. Wiedermal fand eine Miißwahl statt. Doch diesmal ganz anders: Moskaus „Super-Babuschka“ sollte ermittelt werden. Babuschka, oder liebevoller Babka, ist die Oma. Die schlanke und grazile Mussa Sorminskaja trug schließlich verdient den Titel davon. Mit ihren 63 Jahren schmetterte sie den Volleyball, als hätte sie vor kurzem noch in der Nationalmannschaft gespielt. Ihre Walzerperformance und dann der verruchte Lambada raubten der Jury völlig den Atem. Auch sonst lag sie überall vorn. Fragen zur Geschichte Moskaus, zu Malerei und Architektur brachten sie nie in Verlegenheit. Ihr Englisch war ebenfalls superb. Frau Sorminskaja ist nicht die durchschnittliche russische Großmutter. Das sagt schon ihr Titel. Abseits des einabendlichen Glamours verbindet sie aber mehr Gemeinsames mit den Millionen namenlosen „Babkas“ als Trennendes: die Plackerei und erbärmlichen Lebensumstände des Alltags. Ihr geschiedener Sohn, der zehnjährige Enkel und sie drängeln sich in einer winzigen Zweizimmerwohnung. Sie erzieht den kleinen Dmitrij. Für ihn ist sie ständig auf Achse. Sie wäscht, sie stopft und kocht, bringt ihn zur Schule und beaufsichtigt abends seine Hausaufgaben. Den Rest der Zeit jagt sie von Schlange zu Schlange auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Der Blick in ein beliebiges Moskauer Geschäft verrät es sofort. Es sind die Großmütter, die sich hier in Geduld üben und dem Rest der Bevölkerung den Rücken für „produktive“ Arbeit freihalten. „Uns gibt es schon seit der Revolution“, meinte neulich eine Oma mit verblüffender soziologischer Tiefenschärfe. Während die Sowjetunion zerbröselte, Rußland auf der Suche nach seinem neuen Selbstverständnis ins Trudeln gerät, stehen die Großmütter wie ein Fels in der Brandung. Babuschka ist mehr als eine enge verwandschaftliche Beziehung, es umreißt eine Institution, eine soziologische Größe mithin. Ihren sozialökonomischen Beitrag hat noch keiner berechnet. Doch so viel steht fest, ohne ihre Selbstaufopferung wäre diese Gesellschaft — oder doch Millionen Familien — längst zerfallen. Selbstaufopferung fordert natürlich ihren Tribut. Doch dazu später. Russinnen gebären im Schnitt das erste Mal mit 22 Jahren. Mitte Vierzig holt sie meist die dritte Lebensphase ein. Das erklärt, warum es so viele von ihnen (den Großmüttern) gibt. Mit 55 Jahren können sie dann in Rente gehen. Die wiederum reicht hinten und vorne nicht. Neben ihrer unbezahlten Aufgabe als mater familias schuften sie oftmals in minderwertigen Jobs. Aber das mit Würde — nein besser: im Bewußtsein ihrer Autorität. Sie sind nämlich auch eine moralische Instanz als Hüterinnen der Tradition. Und die Gesellschaft „dankt“ es ihnen, sie dürfen in ihr bleiben. Nur 80.000 Rentner leben in Altenheimen.

Und der Tribut, den sie für all das fordern? Gegen das Machtwort einer Babuschka — ihren mißbilligenden Blick — konnte bislang auch der Gelehrtenrat einer Akademie nichts ausrichten. Viel schlimmer, sie entließen die nachrückende Generation nie aus ihrer Unmündigkeit. Heranwachsende wurden zu Passivität erzogen. Enkel sind noch übler dran. Sie leiden unter dem doppelten time lag. „Wenn unsere Generation abtritt, wird alles noch viel trüber aussehen“, klagte die mit soziologischer Einsicht begabte Oma. Aus ihrer Warte hat sie recht — vorübergehend. Denn die „Miißes“ von heute als Oma von morgen möchten diese Rolle nicht mehr bekleiden. Sie wehren sich, wenn auch noch halbbewußt, gegen die Standards des Ostens. Die Babkas wollen es nicht wahrhaben, obwohl es ihnen einen gemütlicheren Lebensabend verspräche. Doch mit der Mündigkeit verschwindet die Unabkömmlichkeit.