Italien nimmt alle Maastricht-Hürden

Die Dauersatire „Haushalt nach dem Prinzip Hoffnung“ verspricht zum Vorbild für Europa zu werden/ Seit zwanzig Jahren keine reguläre Bilanz, aber Italien bleibt fünftstärkste Industrienation  ■ Aus Rom Werner Raith

Als Italiens Haushaltsminister Guido Carli nach dem Maastricht-Gipfel wieder in Rom landete, hoffte er noch inständig auf ein Wunder. Seine Kabinettskollegen sollten die Lücke nicht bemerken, mit deren Hilfe er Italien in die künftige Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu führen gedachte. Doch wie immer, wenn neue Regulierungen drohen, setzte sich in Italien ein ganzes Heer von Advokaten und Nationalökonomen in Aktion, um nach den Schlupflöchern zu suchen. Bereits nach kurzer Zeit erkannten sie, was dem listigen Carli im Maastrichter Vorschriftenwerk aufgefallen war: Zwar wurden dort die einzelnen Länder verpflichtet, sich schrittweise an die durchschnittliche Inflationsrate anzunähern, ausgeglichene Haushalte vorzulegen und ihre Handelsbilanzdefizite zu verringern, doch niemand hatte festgelegt, wie die Regierungen ihre Grunddaten für eine Prüfung durch die EG-Kommission erstellen müssen.

Doch Carli mochte dieses Schlupfloch nicht nur vor den Brüsseler Kommissaren verdeckt halten, sondern mit den Vorgaben aus Maastricht seinen Kabinettskollegen ein paar Prozent des 600 Milliarden Mark großen Haushalts abhandeln. Italiens Etat ist mit einem Defizit von mehr als 200 Milliarden Mark belastet und nur mit immensen Neuanleihen auszugleichen. Daß „auch die Deutschen mittlerweile nur mehr mit Tricks in die Wirtschafts- und Währungsunion hineinkönnen und wahrscheinlich am Tag der Wahrheit alle europäischen Länder zu Tricks all'italiana greifen müssen“, wie Carli erkannte, ist da ein geringer Trost. Die Ministerrunde unter Leitung von Regierungschef Giulio Andreotti jedenfalls zeigte sich unnachgiebig. Carli wurde gezwungen, wie gewohnt auf die Schönfärbung aller wichtigen Wirtschaftsdaten zurückzugreifen, von der Inflation bis zum Bilanzdefizit.

„Die Inflationsrate“, hatte nach Mahnungen aus Brüssel schon ein Vorgänger Carlis erkannt, „ist vor allem eine Frage dessen, was man in den Lebenshaltungskorb hineinpackt.“ So drücken die Italiener seit Mitte der achtziger Jahre ihre offizielle Inflationsrate vor allem dadurch nach unten, daß sie dem Faktor Wärmeenergie eine angesichts der natürlichen Außenwärme alljährlich eine übergebührliche Berücksichtigung zuteil werden lassen. Der milde Winter in diesem Jahr hat so die offizielle Teuerung von monatlich 0,5 Prozent auf 0,3 Prozent sinken lassen, während alle anderen Lebenshaltungskosten kräftig anzogen.

Auch im Berechnen der Außenhandelsbilanz ist italienischen Statistikern bereits genügend eingefallen, um gut dazustehen, wenn es darauf ankommt. So haben Beobachter mit Erstaunen vermerkt, daß sich die Lage immer dann geradezu rosig ausnimmt, wenn die internationalen Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Hitliste der Industrienationen aufstellen. Die Sache flog im vorigen Jahr auf, als Außenminister De Michelis aus Publicitygründen vor dem G-7-Gipfel voreilig Italien nach den USA, Japan und Deutschland auf dem vierten Platz postierte und damit eine etwas peniblere Nachrechnung durch die überholten Franzosen und Engländer auslöste. Da stellte sich heraus, daß die staatlichen Datensammler bedenkenlos Aufträge und Rechnungen durcheinandergeworfen und schon mal halbe Jahresumsätze auf ein Monat konzentriert hatten.

Doch die bei weitem beste Leistung bieten Italiens Rechenkünstler immer noch beim jährlichen Haushaltsentwurf, wenn dieser sich, wie seit mehr als zwanzig Jahren, schon während der Beratungen als Makulatur erweist. Mal fehlten umgerechnet sechs oder acht Milliarden Mark, weil man gleich zweimal hintereinander vergessen hatte, längst abgeschaffte Steuern aus dem Entwurf zu streichen; mal zeigte sich ein fast ebenso großes Loch, weil man zwar kräftig Staatseigentum verkaufte, dabei aber die daraus entspringenden Einnahmen nicht gestrichen hatte. Auch die neu berechnete Ausgabe des Haushaltsgesetzes erwies sich wieder als drolliges Zahlen-Machwerk — diesmal wurden einfach die Ansätze für Steuereinnahmen so überzogen angesetzt, daß selbst ein Boom-Jahr nicht mehr für Ausgleich sorgen konnte.

Dazwischen kamen die Bilanz- Sanierer auf einen anderen Trick, den unlängst Staatspräsident Cossiga zum Anlaß für eine herbe Kritik an den zuständigen Ministern nahm: Um die Ausgaben zu senken, wurden einfach 15 Prozent aller staatlichen Stellen gestrichen. Da aber die darauf sitzenden Leute nicht gefeuert werden konnten, wurden sie im neuen Jahr allesamt wieder eingestellt. Die Bilanz stimmte so bis zur Verabschiedung des Etats — danach mußte ein Nachtragshaushalt beschlossen werden.

Mitunter lassen sich die Haushaltslöcher allerdings auch mit solchen Tricks nicht mehr stopfen. Dann sind jene Brainstorm-Profis an der Reihe, die man wohl auf dieser Welt sonst nirgendwo findet. Sie erfinden immer neue Bagatellsteuern, die angeblich große Einkünfte versprechen und nur die Reichen treffen, ohne diesen wirklich Geld abzunehmen. Daß sie bereits kurze Zeit danach wieder aufgegeben werden müssen, ist im voraus bekannt. Doch bis dahin, wie der Himmel will, hat sich die Einkunftslage vielleicht wieder verbessert, oder neuerliches Nachrechnen bringt andere Ergebnisse. Manchmal ist die Regierung dann schon nicht mehr im Amt.

So dachten sich die findigen Fiskalexperten während der Haushaltsberatungen 1990 und 1991 neben den altbewährten Abgaben auf Benzin und Versicherungen, Zweithäuser und Computer eine geradezu unvorstellbare Menge neuer Steuern aus: Auf Mobiltelefone, auf Kreditkarten oder auf den Besitz von Geländewagen wurden Abgaben erhoben. Erhoffter Gewinn: umgerechnet an die 20 Milliarden Mark. Natürlich trug keiner dieser Kleinstbeträge wesentlich zur Haushaltsentlastung bei. Dafür nahm der Kreditkartengebrauch, wie sich herausstellte, geradezu sprunghaft ab. Seit jede Buchung die Kartenbesitzer zusätzliche Liretausender kostet, sind die Neuanträge bei manchen Geldinstituten an einer Hand abzuzählen. Die Geländewagen-Steuer artete alsbald in geradezu philosophische Definitionsfragen aus: Ist Allradantrieb bereits ein ausreichendes Zeichen für einen „Fuoristrada“? Oder müssen die Fuhrwerke noch geländegängige Federungen, Überrollbügel und andere Zusätze aufweisen? Und sei es nicht geradezu verfassungswidrig, Bauern oder Tierärzte mit der Sondersteuer zu belasten, die auf derlei Gerät angewiesen sind? Am Ende ließ man die Absicht einfach fallen.

Zur schönsten Posse aber wurde die Mobiltelefon-Steuer. Da gab es zwar keine Definitionsdebatte — mobil ist mobil. Doch wie sich herausstellte, sind gute 70 Prozent aller „Cellulari“ auf irgendeine Behörde oder ein Ministerium gemeldet, für deren Amtschef samt Anhang das Gerät ein Statussymbol ist. Die Steuer muß damit, einschließlich der erheblichen Einzugskosten, vom Staat selbst berappt werden.