Compatible Kunst und gelebte Chaostheorie

■ Jochen Seidel (1924-1971) in der Staatlichen Kunsthalle Berlin — Wortbilder und andere Werke gegen das Vergessen

Die heutigen »Künstler«, die — von der Mandelbrotschen Chaostheorie besessen — ihre Apfelmännchen mit Hilfe der AppleCompatiblen »malen«, haben nicht die blasseste Ahnung vom Preis, den Jochen Seidel mit seinem fraktalzersplitterten Leben für seine Kunst bezahlt hat: für den harten Weg vom Bitterfelder Hitlerjungen über die DDR-Künstlerausbildung, für seine Flucht nach Berlin (West) zur Existenz eines »falschen Mannes zur falschen Zeit« im Pop-art beherrschten New York City. Justice! fordert sein Bild, das in der Salander O'Reilly Galerie in einer kleinen Zusatzausstellung hängt. Aber das Leben ist so wenig gerecht wie die Kunst — die apfelmännchenapplecompatiblen Maler werden wahrscheinlich die Intensität nie erreichen, die Seidel mit dem Pinsel auf die Leinwand gebracht hat.

Kurz vor dem Freitod des Künstlers schreibt dieser in einem Brief: »meine Kunst ist eine feardimensionale« — auf seinen Wortbildern erscheint sehr oft »meine vierdimensionale Kunst«. Neben der Angst ist die Zeit, sind diese über zwanzig Jahre seit seinem Tod zweifellos die wichtigste Dimension seines Werkes. Die verblüffende Vorahnung Seidels, die seine Suche durch gezwungenen Zufall — Kritzeleien und Tachismus — auf einen Weg, der die weitere Entwicklung der Kunst, ja der Zivilisation voraussagte, gebracht hat, ist ein Beweis für den »Touch of genius«, wie er eines seiner Bilder nennt. — Der heute vor 68 Jahren Geborene fing als Soldat der Wehrmacht an zu malen. Als ein effizienter Propagandatafelkünstler hatte er in der DDR einen gewissen Erfolg. Thälmanns Porträt zeugt von seinem Können. Die erfolgreichste Periode seines Schaffens folgt jedoch nach der Übersiedlung nach Berlin (West) 1953. Sein Ateliergenosse Klaus Schön erzählt, daß er mit Seidel nie gleichzeitig arbeiten konnte. Die beiden haben sich ihr Atelier an der HdK im Tag-Nacht- Rhythmus teilen müssen, da sonst die Gefahr von Konflikten bestand.

Einen Übergang zwischen der Periode der »gestörten Ordnung« und der »fraktalen« Periode des »geordneten Chaos« stellt die Phase der Wortbilder dar. Seidel war in der wichtigsten thematischen Ausstellung von Schriftbildern — 1989 in der Galerie Schüppenhauer in Köln — nicht gezeigt worden. Dabei gehören seine Arbeiten zu den interessantesten in dieser Richtung. Die Ambivalenz, für praktisch alle seine Werke charakteristisch, ist für seine Schriftbilder konstitutiv: der Leser/ Zuschauer weiß nicht, welche Art Kommunikat ihm gegenübersteht — soll es gelesen oder als eine expressive, ästhetisch wertvolle Ansammlung der Buchstaben wahrgenommen werden? Hier ist Seidel wieder ein Prekursor: man denke an den »Grafik-Künstler« Neville Brody, der sich zwar einer ganz anderen Ästhetik, doch einer ähnlichen Doppeldeutigkeit bedient. Seidels Bilder der letzten Phase benutzen die Produkte des Unkenntlichmachens der Buchstaben als Rohstoff: nur noch mit der größten Mühe und sporadisch kann man etwas entziffern — wie eben die besagte Justice!.

Einer der wichtigsten polnischen Dichter der Nachkriegszeit, Edward Stachura, hat sein Leben als ein Kunstwerk gestaltet, seinen Freitod geplant und vollzogen. Wichtiger als der Tod als Abschluß war jedoch die unglaubliche Intensität, mit der Stachura das Schreiben und das Leben vereinte. Lebenschreiben ist eine gängige Bezeichnung dieses Phänomens der Alltagsbewältigung. Seidel äußert sich im ähnlichen Sinne: »... mein Leben ist der Stoff, aus dem ich meine Kunst schöpfe.« Anfangs mit realistischen Bildern — eine Beschreibung des Status quo — dann die Ungegenständlichen, die von der Wirklichkeit draußen und der Wirklichkeit des Bildes flüchtenden Leinwände, die reduzierten Bilder einer Geste, einer Absicht, eines Verzichts. Der Weg der Gespräche in den Wortbildern und die Entdeckung der Geheimsprache der »Fraktale«, der Floskeln, die einst vielleicht Negative oder auch Fragmente der Buchstaben waren. Dann aber — wahrscheinlich mit wenig bewußtem Einfluß des Künstlers — in eine Beschreibung des Chaos übergehen und für uns, nach den Erfahrungen der Fraktaltheorie, fast selbstverständlich sind, damals aber ganz unverständlich geblieben sind: Seidel hat die Antwort gefunden. Einen goldenen Weg zwischen Chaos und Ordnung — nur: niemand von seinen Zeitgenossen hat das begriffen. »Apple compatible«, »Justice«, »the fool«, »touch of a genius« sind Bilder, die auf ihr Publikum zwanzig und mehr Jahre warten mußten und die heute zu den größten Werken der deutschen Nachkriegsmalerei gehören. Die Lebenserfahrung Seidels hat dabei eher mit der Tragödie eines zu früh gekommenen Genies zu tun als mit der psychischen Krankheit eines Bitterfelder Provinzlers der Metropole New York.

Diese Retrospektive ist auch eine Hommage an Rudolph Soringer, den Förderer Seidels in Berlin: ein Mann mit einem Weitblick, für den die Zukunft eine Gegenwart ist.

Man kann natürlich diese Malerei auch auf nüchternere Weise beschreiben, zum Beispiel Elemente der Miro-, Gorky-, ja Picasso-Stilistik entdecken. Man kann die Anekdoten vom narzistischen Künstler — der sich für ein Genie hielt — erzählen, seine Selbstdarstellung, seine — für ihm nahestehende Menschen — unerträgliche Art.

Meines Erachtens sind jedoch diese Bilder, als Gesamtwerk betrachtet, ein Zeugnis und eine Lehre für uns »Heutige«, die den Wahnsinn Seidels als Alltag erleben. Gerade wegen der Rückschläge und Lächerlichkeiten und durch den tragischen Zwiespalt — gleichzeitig »Genie« und »fool« zu sein — verdient Seidel nicht, vergessen zu werden. Piotr Olszowka

Jochen Seidel 1924-1971, Staatliche Kunsthalle Berlin, Budapester Straße, bis 26. April