Der ganz normale kleine Mann

■ Ignaz Kirchner mit Monologen von Wilhelm Reich und Herbert Achternbusch in den Kammerspielen des Deutschen Theaters

Setzen Sie sich hin! Ich fang' noch mal an. Das ist ja sonst sinnlos.« Überraschend aggressiv bellt Ignaz Kirchner vom Burgtheater Wien den zuspätgekommenen Zuschauer an. Und macht gleich seine Drohung wahr, wiederholt die ersten drei Minuten der Rede an den kleinen Mann des Psychoanalytikers Wilhelm Reich.

Er verschafft sich Luft, hin- und hergerissen zwischen starker Zuneigung zu dem »kleinen Mann« in jedem, der ihm auch selbst vertraut ist, und einem grenzenlosen Unmut über den, der soviel erreichen könnte und doch durch Ignoranz und bequeme Verdrängung schuldig wird. Und so ist auch der verlegene und gemaßregelte Zuschauer kein privates Ablaßventil eines genervten Schauspielers, sondern bereits Teil dieser Aufführung, gleichzeitig Mitwirkender und Adressat — wie alle, die da unten auf ihren Plätzen sitzen und vielleicht gern nur Zuschauer wären. Aber das Saallicht bleibt hell erleuchtet.

Selten wendet sich Ignaz Kirchner direkt an einen oder mehrere Zuschauer, er vermeidet zielgerichtete Moralpredigten. Da spricht Wilhelm Reich, der einstige Schüler Freuds, der versuchte, eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Marxismus zu schlagen und es sich letztlich mit beiden Gruppen verscherzte. 1957 starb Reich im amerikanischen Bundesstaat Maine (nachdem man vorher dort noch seine Bücher verbrannte) in einem Gefängnis, in das er wegen angeblicher Scharlatanerie eingesperrt worden war.

Wilhelm Reich wäre auch hier fast in Vergessenheit geraten, wenn sich die 68er Bewegung nicht wieder auf seine Schriften konzentriert hätte. Die Rede an den kleinen Mann schrieb er 1946. Sie ist Abrechnung und Appell zugleich: der kleine Mann kann sich seine Freiheit erobern, aber sichern kann er sie sich nicht. Er ist sein eigener Sklaventreiber, auf den Platz der alten Herrscher setzt er neue, ohne auf die eigene Kraft zu vertrauen. Er ist autoritätsgläubig, er verwechselt Emanzipationsfähigkeit mit der Größe eines Staates, das »Erwachen der Millionen« mit Kanonenfeuer und die Freie Liebe mit Vergewaltigung. Sicherheit geht ihm vor Wahrheit und Lernen, er schafft sich seine eigenen, kleinlichen Denkmodelle und Maßstäbe, mit deren Hilfe er glaubt, »Normales« von »Unnormalem« unterscheiden zu können.

Dem kleinen Mann fehlt der Glaube an seine Besonderheit, seine Individualität. Früh schon hat er sich sein Rückgrat brechen lassen und vollzieht dasselbe an seinen Kindern. Er ist nicht eigenständig, nicht mündig, sucht die Schuld bei anderen und hat sich das alles doch selbst zuzuschreiben. Denn: Ignorieren und Verdrängen ist bequemer, als Verantwortung zu tragen. Aber auch zu kurzsichtig gedacht, denn so wird er immer wieder als Kanonenfutter herhalten müssen.

»Ich habe Angst vor Dir!« erklärt Ignaz Kirchner seinem Schattenbild, dessen Umrisse er mit Kreide festgehalten hat. Ein gesichts- und konturloser kleiner Mann an der Wand, deren Hand er sich zum Hitlergruß erheben läßt, der angefleht oder beleidigt wird. Kirchners anderer Ansprechpartner ist ein leerer Stuhl, doch nie verliert er den Kontakt zum Publikum. Es fühlt sich angesprochen, wenn er kurzfristig zu resignieren scheint, freundlich abgeklärt ist, und dann wieder — kaum beherrscht — seine hilflose Wut loswerden muß.

Die Rede an den kleinen Mann ist mehr als bloß ein Gastspiel von Ignaz Kirchner in Berlin. Sie ist der gelungene Einstieg eines Schauspielers, der ab der kommenden Spielzeit fest am Deutschen Theater beschäftigt sein wird. Mit dem Text von Wilhelm Reich und dem Monolog Ella von Herbert Achternbusch stellte er sich dem Berliner Publikum vor.

Der Achternbusch-Text ist — im Gegensatz zu Wilhelm Reichs konkreten Forderungen und Analysen — weniger spröde, er ist sinnlicher, bühnentauglicher. Doch die üblichen Bühnengesetze werden auch hier von Kirchner gesprengt. Josef setzt sich an einen Tisch und beginnt, die Geschichte seiner Mutter Ella zu erzählen: »Meine Lebensgeschichte, die habe ich schon.« Aber es ist nicht Josef, den Kirchner weitersprechen läßt. Ruckartig wirft er den Tisch um, eine Lampe und eine volle Wasserflasche gehen dabei zu Bruch, er tritt nach vorn an die Rampe: »Licht, Licht!«

Sofort ist es wieder hell im Zuschauerraum, und wieder hat niemand die Chance, sich anonym ins schützende Dunkel zu verziehen. Der Schauspieler fordert die ungeteilte Aufmerksamkeit, ohne daß er durch gezielte Beleuchtung den Blick auf die Bühne lenkt. Das ist keine normale Bühnensituation mehr, beklemmend real verwandelt sich Kirchner in Ella.

»Licht, Licht!« — könnte auch der lebenslange Aufschrei von Ella gewesen sein. Früh schon mußte sie, im Anschluß an eine trübsinnige Kindheit, einen sehr viel älteren Mann heiraten, den sie angewidert den »Viechhändler« nennt. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes läßt der Mann sie psychiatrisch einweisen und die Ehe wieder scheiden. Nach ihrer Entlassung hat sie keine Chance mehr, ein Bein auf den Boden zu bekommen. Wegen einer Lappalie muß sie ins Gefängnis, von da in eine weitere psychiatrische Anstalt. Sie wird entmündigt, zu Zwangsarbeit verdonnert und nach der Geburt eines syphilitischen Kindes zwangssterilisiert. Sie ist in einem Teufelskreis gefangen, ihre einzigen Fluchtmöglichkeiten bestehen in gelegentlichen Kinobesuchen.

»Kino ist das Schönste« steht da auch in ungelenker Schrift und mit vielen Ausrufezeichen versehen an die Bühnenwand gekritzelt. Das hat Kirchner geschrieben, oder Ella, wer vermag das noch zu unterscheiden? Verstümmelte Sätze versuchen Gehör zu finden, Kirchner windet sie heraus, mal leise, mal läßt er Ella froh und stolz über eine Idee, einen Satz lachen, dann wieder muß sie sich bei Erinnerungslücken selbst bestrafen. Er läßt ihr Zeit, sich in Gedanken zu verlieren, stumm raucht er eine Zigarette, und niemand aus seiner Zuhörerschaft wagt, ihn auch nur durch ein Räuspern zu stören.

Ungelenk bewegt er sich, kratzt sich nervös und verlegen, die Augen blinzeln, zucken, vermögen den Blick nicht zu halten. Einmal zieht er sich eine Plastiktüte über den Kopf und berichtet über eine Mitpatientin, die ihre Ärzte ersticken ließen. Fest schließt er die Tüte um seinen Hals, endlos lang scheint es zu dauern, bis er sich wieder von ihr befreit. Fast unerträglich ist die Spannung, man möchte schreien, auf die Bühne stürzen und ihn von diesem Mordinstrument befreien.

Näher kann man wohl kaum an diese Figur herankommen. Ignaz Kirchner riskiert viel: er ist völlig ungeschützt, verletzbar, angreifbar. Er hat nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Alles, was er hat, setzt er auf sich, sein Spiel und seine Überzeugungskraft. Und gewinnt. Anja Poschen