Sexuologie im Ost-West-Krampf

■ Ein Institut in der Nachfolge des Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld an der Humboldt-Universität bleibt voraussichtlich nur ein Wunsch/ Biologistische oder soziologische Sicht?

Berlin. In der Diskussion um die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 halten sich deutsche Sexualwissenschaftler in der Öffentlichkeit zurück. Sie sind vielmehr mit dem etwa hundert Jahre alten Streit beschäftigt, welcher Ansatz zur Erforschung der Sexualität des Menschen der richtige sei: der soziologische, der vom Menschen als dem Produkt seiner Umwelt ausgeht, oder der biologisch-medizinische, der ihn vor allem genetisch bedingt sieht.

Die Positionen haben sich in den letzten Monaten verhärtet. Grund dafür ist zum einen die Unfähigkeit beider Seiten zum Dialog. Zum anderen gibt es Streit um den Versuch einer Gruppe von Wissenschaftlern, ein Institut für Geschlechter- und Sexualforschung an der Berliner Humboldt-Universität zu gründen, um damit das Vermächtnis des bekannten Sexualforschers und Mediziners Magnus Hirschfeld (1868—1935) zu erfüllen.

Zentrum internationaler Sexualwissenschaft

Berlin war bis zum Beginn der Nazidiktatur das Zentrum der internationalen Sexualwissenschaft. Schon 1919 hatte Hirschfeld in Berlin-Tiergarten das erste sexualwissenschaftliche Institut ins Leben gerufen. In der Hauptstadt fanden 1921 und 1926 die beiden ersten internationalen Kongresse für Sexualwissenschaft statt. Das Institut und damit die Hirschfeld-Wissenschaftsrichtung wurde 1933 von den Nazis zerstört.

Das Hirschfeld-Institut, ab 1924 getragen von einer Stiftung, war für seine Zeit sehr fortschrittlich. Es gab eine Ehe- und Sexualberatungsstelle und ein Komitee, das sich für die Rechte Homosexueller einsetzte. Nach dem Willen von Hirschfeld sollte das Institutsvermögen zur Errichtung eines sexualwissenschaftlichen Lehrstuhls an einer Berliner Universität verwendet werden.

In den 50er Jahren begannen in der Bundesrepublik Sexualwissenschaftler erneut, im liberalen Geiste Hirschfelds zu forschen. Zunächst in Hamburg, später in Frankfurt/Main, Stuttgart und Kiel entstanden Forschungszentren oder Lehrstühle, die alle im Bereich der Medizin angesiedelt sind.

Fachkonferenz von der SED verboten

In der DDR wurden Forschungen zur Sexualität von der SED beargwöhnt. Es gab weder eine Fachgesellschaft noch eine sexualwissenschaftliche Abteilung an der Akademie der Wissenschaften der DDR, auch keine entsprechende Zeitschrift. Eine Fachkonferenz Anfang der 70er Jahre wurde von der Abteilung Wissenschaft im Zentralkomitee der SED verboten.

Der Zusammenbruch der DDR brachte Hoffnungen auch für die Sexualwissenschaftler. Günter Grau vom Institut für Geschichte der Medizin an der Ostberliner Charité vertritt dabei den soziologischen Standpunkt: »Da der Mensch als Sexualwesen in einer Gesellschaft lebt, müssen gesellschaftliche Fragen aus sozialer Sicht untersucht werden. Wie entstehen zum Beispiel die Machtverhältnisse der Geschlechter? Wie ist die Sexualität von Männern und Frauen determiniert?«

In diesem Sinne veröffentlichte eine Gruppe von fünfzehn Wissenschaftlern aus Ost und West, darunter der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, die Westberliner Frauenforscherin Christina Thürmer-Rohr und der Homosexuellenforscher Hubert Thinius aus Ost-Berlin, im Oktober 1991 ein Memorandum zur Gründung eines Institutes für Geschlechter- und Sexualforschung an der Humboldt-Universität. Die Anbindung des Institutes an den Fachbereich Sozialwissenschaften sei zwingend, hieß es in dem Papier.

Diese Aktivität war zwar mit dem damaligen Humboldt-Rektor Heinrich Fink abgesprochen, nicht aber mit Wissenschaftlern der Universität, die sich mit Fragen der Sexualität und Geschlechtlichkeit beschäftigen. Sie warfen der Gruppe um Grau »Ausgrenzung« und eine im internationalen Vergleich antiquierte, weil »soziologisch-reduktionistische Betrachtungsweise« vor.

Hartmut Bosinski vom Interdisziplinären Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik an der Humboldt-Universität sieht für die Gründung des angestrebten Institutes in der sozialwissenschaftlichen Form keine Möglichkeit mehr: »In der Neuordnung der Universität steckte auch die Chance für die Sexualforschung. Wir brauchen sie unbedingt, doch als eine weiterentwickelte Wissenschaft, die international Impulse geben kann.« Er und andere Wissenschaftler wie der umstrittene Endokrinologe Günter Dörner, der Verhaltensbiologe Günter Tembrock und der Humanontogenetiker Karl-Friedrich Wessel wollen nach eigenen Worten eine »einseitig sozialwissenschaftliche oder einseitig biologisch orientierte Forschung« überwinden. Sie wehren sich gegen eine Ansiedlung des Institutes bei den Sozialwissenschaften.

Wissenschaftler mit sich selbst beschäftigt

Im Streit zwischen den beiden Gruppen geht es nach Ansicht von Grau wie von Bosinski auch um Profilierung, um alte und neue Machtkämpfe, um das Damoklesschwert der »Abwicklung« über der Humboldt-Uni und die Zukunft von Arbeitsgruppen an der Hochschule. Auf der Strecke blieb bisher der wissenschaftliche Sachstreit. Deutschlands Sexualwissenschaftler sind weiter vor allem mit sich selbst beschäftigt. Andrea Marczinski (dpa)