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Wahlscheine zählen — nicht Wildschweine

■ Serie: Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 13)/ Spandau kämpft gegen eine Ökomauer/ Durch den Forst sollen wieder Autos fahren dürfen/ SPD verliert schon jetzt, denn Bürgermeister Salomon muß gehen/ Ein Kino für 210.000 Spandauer

Spandau. Man kann Spandau zu Wasser oder zu Land erreichen. Aber nur auf dem Wasser — der Havel und Spree — macht sich die Rush- hour noch nicht bemerkbar. Wer in den Nachmittagsstunden in die Altstadt mit Hilfe eines Automobils fährt, muß in Kauf nehmen, auf der Charlottenburger Chaussee oder der Nonnendammallee »im Blech« stecken zu bleiben. Wer die U-Bahn nimmt, kommt zwar dank Tunnel schnell voran, kann sich im Berufsverkehr aber nicht darauf verlassen, einen Sitzplatz zu finden.

Auch wenn sich seit 1920, als der Bezirk von der Millionenstadt Berlin eingemeindet wurde, das Gerücht hält, daß Spandau nicht Berlin sei, sondern nur bei Berlin liege, macht die Situation auf Straßen und Schienen deutlich, daß es zwischen dem flächenmäßig zweitgrößten Bezirk und dem Rest der Regierungsstadt zumindest einen regen Austausch gibt. Daß Havel und Spree die Peripherie vom pulsierenden Zentrum trennen, scheint dem Hin und Her nur wenig Abbruch zu tun. Anders soll sich das mit den Verbindungen ins Umland verhalten.

Zwar fiel auch um Spandau die Mauer, doch fühlen sich die Randstädter von den neuen Bundesbürgern weiterhin getrennt — durch eine Art Ökomauer: den Spandauer Forst. Die Schönwalder Allee, die den Wald in zwei etwa gleich große Hälften zerschneidet, soll nicht länger nur Spaziergängern, Krabbeltieren und Rehen vorbehalten bleiben. Der Forst verhindere das Zusammenwachsen mit dem Umland, argumentieren Autofahrer. Sie wollen »freie Fahrt«.

Bestärkt durch die anstehenden Wahlen, wollen auch die SPD und CDU, daß — Wildschweine hin, Kröten her — Wagenreifen alles niederwalzen dürfen. Im Gegensatz zu den Sozial- wollen die Christdemokraten die Todesbahn für Tiere aber nicht nur auf der Schönwalder Allee, sondern auch auf der Niederneuendorfer Allee anlegen. Die einzigen, die Fichten und Frösche schützen wollen, sind die zwei im Spandauer Rathaus vertretenen Politiker der Alternativen Liste. Sie könnten von der Öffnung profitieren. Schließlich geht es auch ihnen um Wählerstimmen — und unter den im Mai Wahlberechtigten gibt es auch eine beträchtliche Zahl von Waldfreunden.

Mobilitätsdrang der »Bei-Berliner«

Der Hader um »freie Fahrt« durch den Forst mag ein Schlaglicht auf den ökologischen Bewußtseinszustand der »Bei-Berliner« werfen. Mit ihrem Mobilitätsdrang verraten sie allerdings etwas anderes: Ihr Bezirk ist nicht autark, scheint abhängig vom angrenzenden Ackerland und der nahegelegenen Großstadt. Nach Feierabend bleibt nur Fernsehen oder Flucht. Besonders bitter: Die 210.000 Spandauer wollen einfach nicht in das einzige vorhandene Kino passen. Die Unterversorgung mit Hollywood-Stars belastet vor allem das Wahlkonto des SPD-Bürgermeisterkandidaten Sigurd Hauff — er ist seit 1989 Volksbildungsstadtrat. Neben anderen kulturellen Einrichtungen müßten auch mehr Kinos hinter die Havel, doch der Kandidat hat in der Kinowelt offenbar nur wenig Einfluß.

Aber nicht nur auf diesem Gebiet — 1961 hatte Spandau noch zwölf Kinos — verliert der Bezirk seine Selbständigkeit. Das 'Spandauer Volksblatt‘ erscheint seit April dieses Jahres nicht mehr täglich, sondern wöchentlich. Ohne »eigene« Tageszeitung wird Spandaus Rolle in Berlin an Gewicht verlieren. Um so schwerer wiegt, daß weder Hauff noch sein Gegner, der CDU-Bürgermeisterkandidat Konrad »Conni« Birkholz, über Spandau hinaus größere Bekanntheit erlangen konnten. Der einzige unter den Provinzpolitikern, der es neben dem jetzigen Bürgermeister Werner Salomon geschafft hat, über das 'Spandauer Volksblatt‘ hinaus in Tageszeitungen Erwähnung zu finden, ist Baustadtrat Claus Jungclaus. Der aalglatte Sozialdemokrat hat es verstanden, sich mit dem fortlaufenden Ankündigen zukünftiger Baustellen zwischen die Zeitungszeilen zu zwängen: etwa mit der Wasserstadt Oberhavel, olympischen Dörfern oder dem geplanten Fernbahnhof.

Den Kandidaten Birkholz und Hauff scheint die Ankündigungspolitik des Stadtrats allerdings nicht recht zu sein. Beide versuchen Mammutprojekte wie die Wasserstadt — eine Wohnsiedlung an der Oberhavel, in der nach dem Willen des Bezirks einmal 30.000 Menschen wohnen sollen — oder die Olympischen Spiele kleinzukochen. Birkholz befürchtet eine »Gigantomanie«. Er will die Wasserstadt zwar größer als der Bezirk, aber kleiner als der Senat, der für 50.000 Bewohner plane.

Von der Olympiade reden weder Birkholz noch Hauff. Spandau will sich mit zwei großen Projekten an den Spielen beteiligen. An der Charlottenburger Chaussee soll für 15.000 Athleten das olympische Dorf und im Südhafen ein Dorf für Journalisten entstehen. Doch bei aller Entwicklung, die Spandau brauche, sollte der Bezirk doch liebens- und lebenswert bleiben, möchte der CDU-Kandidat.

Leidenschaftliche Anteilnahme erfährt in Spandau vor allem das »Unternehmen Zukunft«, die Bahn. Am Fernbahnhof, der in wenigen Jahren Ecke Klosterstraße/Brunsbütteler Damm eröffnet sein soll, wird auch der schnelle ICE halten. Von dem Bahnhof erhofft sich Wirtschaftsstadtrat Hans-Ulrich Hering (CDU) eine besondere Anziehungskraft für Unternehmen. Mit dem Bau des Fernbahnhofs wird sichtbar umgesetzt, was die Große Koalition vereinbart hat: Die Stadt soll nicht in der Mitte, sondern in ihren Polyzentren gestärkt werden.

Abgesehen vom 'Volksblatt‘ müssen sich die Spandauer noch an einen anderen Verlust gewöhnen — Bürgermeister Werner Salomon. Er soll eine glückliche Hand gehabt haben, wenn es um den Umgang mit dem politischen Gegner ging oder Bezirksinteressen gegen die fernen Senatsverwaltungen durchzusetzen galt. Bei der letzten Kommunalwahl verpaßte er der CDU eines ihrer schlechtesten Wahlergbenisse. Die Christdemokraten erhielten weniger als dreißig Prozent der Stimmen.

Aber nun macht die Zeit der SPD einen Strich durch den Wahlzettel: der erprobte Bürgermeister ist zu alt geworden und kann den entscheidenden Verwaltungsrichtlinien nicht mehr entsprechen. Ohne Salomon werde im Mai das Ergebnis für die Sozis schlechter ausfallen, glaubt Hauff. Sollte es für die SPD — wider Erwarten — ein armseliges Ergebnis werden, steht Hauff nach dem Kommunalkampf vor einer anderen Qual der Wahl: Verläßt er Spandau zu Wasser oder zu Land? Dirk Wildt

Die Serie wird am Freitag mit Köpenick fortgesetzt.

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