Mißtrauensantrag gegen Jelzin vom Tisch

Hauptfragen des russischen Volksdeputierten-Kongresses: Reformkorrekturen und neue Verfassung  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Volksdeputierten-Kongresse und Versammlungen des Obersten Sowjet in Rußland beginnen stets mit einer Extraportion Emotionen. Die angereisten Deputierten nutzen die ersten Stunden, um sich erst einmal ordentlich Luft zu machen. Anträge werden gestellt, die in ihrer Radikalität und Verbissenheit Übles befürchten lassen. Diese Tradition wurde auch gestern bei der Eröffnung des 6.Volksdeputierten-Kongresses, dem höchsten gesetzgebenden Organ der Russischen Föderation, fortgesetzt. Neun Tage lang sollen Korrekturen der Wirtschaftsreformen und die neue Verfassung für Rußland diskutiert werden. Den symbolischen Auftakt inszenierte der kommunistische Abgeordnete Jurij Slobodkin. Warum die Leninstatue hinter dem Podium verhüllt worden sei, verlangte er zornig zu erfahren. Die Antwort blieb man ihm allerdings schuldig. Gleich zur Sache kam der Rechtsausleger Wladimir Isakow. Er forderte ein Mißtrauensvotum gegen die Jelzin-Regierung. Doch Ruslan Chasbulatow, bisher strammer Widersacher Jelzins, gab sich als Vorsitzender des Kongresses versöhnlerisch. Die Beifallsbekundungen der orthodoxen Deputierten zum Mißtrauensantrag rügte er: „Dies ist nicht der Moment, um Freude auszudrücken.“ Zuvor hatte er die Delegierten ermahnt: „Wir brauchen hier den Dialog und keinen Monolog, wir brauchen einen Kompromiß.“ 447 Abgeordnete hielten sich an die Anweisung des Vorsitzenden und lehnten es ab, den Mißtrauensantrag auf die Tagesordnung zu setzen. 412 stimmten jedoch dafür. Ein klareres Ergebnis, das den wirklichen Groll der Abgeordneten gegen die Regierung widerspiegelt, erbrachte die Frage, ob Jegor Gaidar persönlich zu den Wirtschaftsreformen Stellung beziehen solle. Gaidar, Architekt des Umbaus, war letzte Woche von Jelzin seines Amtes als Finanzminister enthoben worden, um der Opposition weniger Angriffsfläche zu bieten. Als Erster Vizepremier bleibt er aber weiterhin mit der Durchführung der Reformen betraut. 635 Abgeordnete lehnten Gaidars Auftritt ab und forderten einen Rechenschaftsbericht Jelzins.

Am Kongreßvorabend hatte Präsident Jelzin die unterschiedlichen demokratischen Fraktionen aufgerufen, während der Sitzungsperiode zusammenzuarbeiten. Es wurde darüber sogar eine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet. Auf einer „Versammlung der Bürger der RSFSR“ legte er seine Positionen zu den strittigen Fragen des Kongresses dar. Abstriche von den Reformen will er demnach nicht zulassen. Allerdings signalisierte Jelzin Kompromißbereitschaft. Wie es Chasbulatow lange gefordert hatte, kündigte er eine Revision der hohen Besteuerungspolitik an — für Konsumenten und Unternehmen. Ein Schritt, um seine Gegner zu besänftigen, mag auch darin zum Ausdruck kommen, daß der Agrarsektor mehr staatliche Hilfe erhalten soll. Mit den Landwirtschaftsreformen ist Jelzins Gegenspieler, Vizepräsident Alexander Ruzkoi, betraut. Keine Neigung zum Einlenken ließ Jelzin in der Verfassungsfrage erkennen. Für ihn steht fest, nur eine starke Präsidialdemokratie, die ihn mit Sondervollmachten ausstattet, kann das Regierungsmodell in Rußland für die nächsten zwei bis drei Jahre sein. Dem Drängen der Legislative, ihre Macht zu erweitern, will er nicht nachgeben. Bei der konservativen Zusammensetzung der Parlamente bedeutete dies ein rasches Ende des Reformvorhabens.