»Das nennt man dann Untergrund«

■ Vogel oder Käfig sein? — Ein Band mit Kunst und Literatur unabhängiger DDR-Zeitschriften

Im Prinzip ist es eher peinlich, spätabends in der Kneipe zu lesen, anstatt zu trinken, sich zu unterhalten oder mit zurückhaltendem Blick neue Kontakte zu knüpfen. Plötzlich saß ich jedoch da und las und vergaß — was eher selten geschieht — selbst das Bier, das auf dem Tisch stand. Ein Weilchen zumindest. Das Buch, das die Kneipe in den Hintergrund rücken ließ, heißt Vogel oder Käfig sein und enthält auf ungefähr vierhundert Seiten »Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR«.

»Unabhängig — haha«, werden einige gehässig einwenden. Hatte die Staatssicherheit nicht irgendwie auch die von Rainer Schedlinksi herausgegebene Ariadnefabrik finanziert, indem sie Ausgaben für jeweils dreihundert Mark aufkaufte? Oder sind nicht einige der Autoren und Organisatoren der vermeintlich unabhängigen DDR-Kunst- und Dichterszene fiese Stasi-Spitzel gewesen? Der Drucktermin lag zu früh — nämlich noch Ende Oktober 91 —, um auf die Vorwürfe einzugehen, so die Herausgeber in ihrer Einleitung. Es werden eigene Darstellungen folgen, hört man beim Galrev-Verlag, und: »Fest steht: Nicht alles wurde von den Sicherheitskräften kontrolliert und gelenkt, verhindert oder korrumpiert.«

Die Alternative, die der Titel stellt, trifft so vermutlich nicht zu; angemessener wäre es vielleicht gewesen, den Kafka-Aphorismus zu nehmen: Also nicht »Vogel oder Käfig sein«, sondern »Ein Käfig ging einen Vogel suchen.« Auf die Darstellungen der Galrev-Kollegen darf man jedenfalls gespannt sein, zumal die sogenannte Stasi-Infiltration sich nicht nur auf Berlin beschränkte. In Cottbus zum Beispiel besuchten »tagtäglich« Freunde den dortigen Szenekaiser und Maler Hans Scheuerecker, um ihm zu sagen: »Ich war dabei«, erzählte mir neulich ein Galerist und ehemaliger IM, der selbst und freiwillig momentan versucht, seine Stasi- und Kunstgeschichte zu verarbeiten.

Zurück zum Buch: Die versammelten Gedichte, Aufsätze, Prosaskizzen und Grafiken im Buch sind zwischen 1979 und 1989 in Zeitschriften erschienen, die man kaum Zeitschriften nennen mag, lag doch ihr Verbreitungsgrad meist noch deutlich unter der beliebiger Schülerzeitungen. Von Schaden, Usw, Mikado oder der Kaiser ist nackt, von Liane, Anschlag, Und, Entwerter oder wurden zwischen fünfzehn und einhundert Exemplare gedruckt.

Notgedrungen waren die Zeitschriften nicht so sehr Gegenöffentlichkeit als eine Möglichkeit der Verständigung verschiedener Künstler und Dichter zwischen Berlin, Dresden und Karl-Marx-Stadt. Da es sich größtenteils um Unikate handelte — den Blaupausen der Texte waren häufig Originalgrafiken beigelegt —, wurden sie ziemlich schnell zu begehrten Sammlerobjekten, etablierten sich als »Kunst«: Das Kupferstichkabinett Dresden, die Sächsische Landesbibliothek und später auch die Stasi und die Leipziger Deutsche Bücherei begannen schon ziemlich früh, die Zeitschriften und Malerbücher anzukaufen.

Die Verbindung, die Kunst, Grafik und Dichtung in den Zeitschriften eingingen, ergab sich fast zwangsläufig. Die nicht genehmigte Vervielfältigung von Texten stand ja seit 1979 unter Strafe. Neben der Kirche, die intern auch ohne staatliche Absegnung Texte drucken konnte, war es allein den im Künstlerverband eingetragenen bildenden Künstlern gestattet, Grafiken bis zu einer Auflage von dreihundert Stück herzustellen. Ob Text dabei war, interessierte den Gesetzgeber nicht.

Vom Zusammenspiel zwischen Bild und Text, der seltsamen Mischung aus Fanzine und wertvollem Originalgrafikband kann das Galrev- Buch, so sorgfältig es auch gestaltet sein mag, kaum mehr als eine Ahnung vermitteln: Das Format ist zu klein, der Unikatcharakter läßt sich kaum (bezahlbar) wiedergeben. So hat die Reproduktion der Grafiken und Bild-Text-Verbindungen eher dokumentarischen Charakter.

Im Vordergrund steht die Schrift. Die seltsamerweise exakt hundert AutorInnen (das I müßte man kleiner setzen, da es sich vor allem um Männer handelt) sind mehr oder weniger bekannt: Sascha Anderson, Christoph Tannert, Rainer Schedlinski, Detlef Opitz, Bert Papenfuß-Gorek, Frank Wolf Matthies, Matthias BAADER Holst, Gert Neumann, Gabi Kachold, Stefan Döring, Frank (F)Lanzendörfer, Jan Faktor, Elke Erb, C.M.P. Schleime, Peter Böthig, Mitch Cohen, A.R. Penck und andere. Es sind nicht so sehr literarische Meisterwerke, die das Buch spannend machen — da gibt es Gelungenes und weniger Gelungenes —, vielmehr ist es eine seltene Frische, die sich sowohl in großartigen Texten mitteilt, als auch in solchen, die eigentlich langweilig, egozentrisch, epigonenhaft daherkommen.

Den meisten Arbeiten merkt man die Notwendigkeit an, aus der sie entstanden sind — mag es teilweise auch nur eine therapeutische gewesen sein, mag die Notwendigkeit auch nur für diesen Autoren gegolten haben. Und weil die Texte geschrieben werden mußten, vielleicht auch, weil sie auf ihren Fehlern bestehen, vielleicht sogar, weil kaum einer auf Computer geschrieben ist (und so einen anderen Weg nimmt als der Computertext, der zwar sauberer, aber oft auch gesichtsloser wird), können sie etwas herüberretten von den achtziger Jahren ihrer Autoren.

Die Texte tragen das Gepräge der Tage, in denen sie entstanden waren. Man spürt noch etwas von der vergangenen Sexnacht über die der Autor schreibt, man spürt noch den Wind dort draußen vor dem Fenster, die Depression, die sich in der Theorie auflöste; die Freude am Dichtersein und das Klappern der Schreibmaschine in irgendwelchen Hinterhöfen zwischen Halberstadt, Berlin oder Magdeburg.

Auffällig sind die vorherrschenden Strategien der Entsubjektivierung: Oft bleiben nur die Dinge, die miteinander oder mit dem Text sprechen, oft bleibt nur der Text, der von Ich und Welt entlastet, sich in sich selbst spiegelt. Häufig versteckt sich der Autor hinter einem sehnsüchtigen oder anmaßenden »wir«. In den Texten der DDR-AutorInnen wirken die Adaptionen französischer Philosophie allerdings etwas angenehmer als im Westbetrieb. Während den postmodernen Leerformeln im Westen meist etwas beliebig Kokettes anhaftet, gab es in der DDR wahrscheinlich genug reale Gründe, sich in die Subjektlosigkeit zu verziehen.

Und es finden sich ein paar wirklich großartige Texte: Ein langer Essay von Jan Faktor über die unabhängige DDR-Literatur und -Szene der achtziger Jahre, der nicht nur informativ, sondern vor allem durch wunderbare Abschweifungen beeindruckt; oder ein Gedicht von Stefan Döring (man wird immer töter), das Sascha Anderson bei einem seiner Punkrockerauftritte Mitte der achtziger Jahre — im Rückblick ziemlich bewegend — rezitiert hatte: »... es wird immer töter/ töter die liebe/ töter der glaube/ töter die hoffnung/ will man dennoch leber bleiben/ leber töterer liebe/ leber töteren glaubens/ leber töterer hoffnung/ wird man selbst dabei töter/ töterer leber töterer liebe/ töterer leber töteren glaubens/ töterer leber töterer hoffnung/ gibt es denn keine liebe/ liebe töteren lebers töteren glaubens/ gibt es denn keinen glauben/ glauben töteren lebers töterer hoffnung/ nein!/ es bleibt nur noch/ töter zu werden/ oder töter zu sein/ töter der liebe/ töter des glaubens/ töter der hoffnung«

Im Dokumentationsteil des Buchs gibt es Schwarzweißfotos aufregender Lesungen und ein paar grundsätzliche Aufsätze und Diskussionen über das, was »Szene« war oder ist. »die szene ist die weib ist die schoß«, weiß Gabriele Kachold; die Redaktion der Zeitschriften sei ausschließlich von Männern dominiert, bemerkt Cornelia Sachse, die Szene sei kalt und »nur auf eine unangenehme Weise neugierig geladen, letztendlich aber stumpf und teilnahmslos«, schreiben Jan Faktor und Annette Simon 1987 in der Ariadnefabrik.

Texte, die das Szeneprinzip grundsätzlich in Frage stellen, gibt es allerdings weniger. So wird aus dem Archiv addiert: ein szenebegleitender Freund meint, in erster Linie wäre es um Spaß gegangen und darum, daß dort immer »so viele schicke Frauen mit engen schwarzen Röcken« rumgerannt wären; ein anderer (Kuttner) erzählt, daß man in die Szene gegangen wäre, weil dort »immer was los« gewesen sei; Peter Wawerzinek entlarvt den sogenannten »Untergrund« als Etikettenschwindel — »eine einladung für einen netten abend, das ist untergrund«.

Irgendwie stimmte ihm selbst der ehemalige »Untergrundkönig« Sascha Anderson vor einem dreiviertel Jahr noch bei: Im Gegensatz zur Sowjetunion, Polen oder selbst Amerika, könne man in der DDR kaum von Untergrund sprechen. »In der SU gab es den politischen, in Amerika vielleicht den ökonomisch-existentiellen Druck, der wirklich einen Untergrund geschaffen hat. Und den gab's in der DDR eindeutig nicht. Woher soll denn der Untergrund kommen? ... Hier ist es vielleicht so: Jeder will raus aus seinen Kreisen. Und 'ne beliebte Art eines hochwohlgeborenen Kindes — egal in welcher Gesellschaft — ist es, erst mal abzusteigen. Runter an die Basis. Die Bonzenkinder werden also Künstler, Arbeiter oder Terroristen oder je nach dem. Das ist ganz klar. Sie müssen runter vom Etablierten, vom Saturierten und allem, was da dranhängt. Und da ist der einfachste Weg abwärts. Das nennt man dann Untergrund. Also: Entweder man bringt seinen Vater um, oder man steigt ab. Anders geht das nie. Ich kenn' jedenfalls kaum Künstler, die aus der Arbeiterklasse kommen. Warum auch?«

In einer Zeit, in der »Untergrund« als Marktartikel von Philipp-Morris und IBM gesponsort wird, ist das immer noch die klarste, mir bekannte Definition für Untergrund. Das Buch versammelt in diesem Sinn Kunst von Leuten, die, größtenteils übers Elternhaus, für Machtpositionen vorgesehen waren, dann aber den vorgegebenen Weg gesellschaftlicher Etablierung in ihrem System ausgeschlagen haben, um — mehr oder weniger selbstbestimmt — ihr eigenes Ding zu machen.

Vogel oder Käfig sein ist eine gute Erinnerung an eine Zeit, die ich nicht kenne. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war ich extrem gut gelaunt, wollte erst mal durch die Kneipen ziehen und neue Leute kennenlernen. Am nächsten Tag, nahm ich mir vor, würde ich mir noch tausend andere Bücher kaufen. Das ist wahrscheinlich das Beste, was man über ein Buch sagen kann. Detlef Kuhlbrodt

Vogel oder Käfig sein — Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989 ; Hrsg. K. Michael und Th. Wohlfahrt. GALREV-Verlag, 28 DM.