Die Angst der Bambini vor der Liebe

Unzählige, unabweisbare Kinderhüterinnen: Omas, Tanten und Schwestern sind immer für die Kleinen da  ■ Aus Terracina Werner Raith

Das Gesicht von Mamma Anna zeigt, daß Fürchterliches passiert sein muß. Ehemann Roberto hüpft gerade ins Auto: „Ich hol' den Doktor.“ Frau Anna schluchzt, ringt die Hände und weist auf die Wiege, die wie immer im Zentrum ihrer Espressobar steht: „Cesare“, stammelt sie, „Cesare... Schaut nur.“

Cesare, der Stammhalter, knapp fünf Monate alt, liegt unbeweglich in den Kissen; uns freilich will es scheinen, als schlafe er, ruhig, entschlossen und friedlich. Frau Anna schlägt die Hände erneut zusammen: „Das kann nicht sein. Der hat was ganz Schlimmes. Noch nie hat er hier geschlafen, der schläft um diese Zeit nie.“ Na, um drei Uhr nachmittags...

Tags darauf scheint wieder die Sonne: Der Notarzt hat festgestellt, daß das Kind tatsächlich geschlafen hat und nichts anderes — allerdings „aus ziemlicher Erschöpfung“, wie Frau Anna verständnislos wiederholt. „Wieso ist der erschöpft? Wo wir ihn doch ständig auf dem Arm tragen, küssen, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen?“

Cesares Schicksal ist keine Ausnahme: Vor lauter Kinderliebe — in der sich die Italiener von niemandem übertreffen lassen — überfordern sie die Kleinen unentwegt durch Knutschen, Wachrütteln und Füttern. Für den Streß der Neugeborenen sorgen just die, die sich ganz besonders zu ihrem Schutz, ihrer Hege berufen fühlen: Mammis, Omas, Tanten, Schwestern. Doch auch die Herren der Schöpfung helfen kräftig mit, wenn's darum geht, den Kleinen Ruhe und Lebensfreude zu rauben.

Kaum in Nähe der Wiege angekommen, beginnt in aller Regel ein geradezu ohrenbetäubendes Geschrei: „Ma come dolce, come grande, come bello“; süß, groß, schön ist der Nachwuchs in jedem Fall, Männer fügen bei Jungen, natürlich, noch ein unvermeidliches „forte“, stark, dazu. Dann wird das Kleine erbarmungslos aus den Kissen geholt, abgebusselt, und das mit aller Umarmungskraft, herumgereicht, wieder abgebusselt, in die Wangen gekniffen. Unzählige Kinder im Süden zeigen bereits früh eine regelrechte Handscheue: Kaum nähert sich die Pfote von Vater, Mutter oder Verwandtschaft, zucken sie zurück, suchen die wehrlosen Wangen zu verbergen. Bei der Kinderliebe wird in Italien eine Art Kommunismus verwirklicht: Das Kind ist Gemeineigentum, jeder darf sich an ihm ausleben wie er gerade will, nur selten greifen die Eltern ein, wenn ihre Kleinen zerdrückt zu werden drohen. Doch nie wird den Mädchen und Jungen erlaubt, sich den physischen Überfällen zu entziehen. Derlei Schutz fällt nicht unter „Kinderliebe“, im Gegenteil: kußabweisende Kinder gelten als bös und werden schon mal kräftig geohrfeigt, damit sie wissen, was Liebe ist. Psychiater wie Paolo Crepet, Wissenschaftler im nationalen Forschungsrat CNR, vermuten hinter der Knutschmanie „das Ausleben eigener Mängel im Verhältnis zu anderen Menschen“, und eine „exaltierte Form des in Italien auch bei Erwachsenen ungebrochenen kindlichen Spieltriebs: Babys als lebendige Puppen“. Tatsache ist jedenfalls, daß es nirgendwo so viele Kinderhüter gibt wie in Italien, allesamt freiwillig und zumeist unentgeltlich, aber allesamt auch unabweisbar. Die Äußerung „Morgen sollte ich mal nach Rom fahren“ bewirkt unweigerlich den Zustrom eines halben Dutzends von Tanten und Nichten, die allesamt das liebe Kleine hüten wollen (wobei die Praxis dann oft so aussieht, daß Sitterin, Wiege und Fernsehapparat zusammengerückt werden, damit man den Knutschfilm vom Vormittag nicht versäumt).

Verständlich ist solches Bedürfnis bei jenen, die aus Altersgründen andere Funktionen dahinschwinden sehen, etwa den Omas oder den ledigen, alternden Tanten. Tatsächlich wachsen in Italien fast 20Prozent aller Kleinkinder mittlerweile bei den Großeltern auf, elf Prozent bei anderen Verwandten. Die Eltern sind zunehmend beide berufstätig, und da in vielen Gebieten die Entfernung zum Wohnort oder -haus der Großeltern nicht weit ist, ergibt sich derlei Kombination fast von selbst. Frau Anna und ihr Mann Roberto, die selbst keine Eltern mehr haben, bedienen sich ihrer gegenüber wohnenden Schwester, die vor allem während der zehrenden Sommersaison das Kind versorgt, das heißt wickelt, badet, füttert — und dann wieder in die Bar bringt, um es dem Geknutsche auszusetzen.

Baby-Tagesstätten sind fast unbekannt, Kinderkrippen ebenfalls, erst mit drei, vier Jahren tritt der Kindergarten in Aktion — bis zu diesem Zeitpunkt findet Kinderleben nahezu ausschließlich zu Hause oder im verwandtschaftlichen Kreis statt; Ausflüge sind selten, und wenn die Kleinen Freunde treffen wollen, holt man die am liebsten zu sich, läßt die eigenen nur ungern zu den anderen. Da die meisten anderen Familien ebenfalls so verfahren, kommt der Kontakt nur selten zustande. Die Betreuung zu Hause — worunter auch die Wohnung von Oma und Tante fallen — rund um die Uhr gilt als selbstverständliches Zeichen der Kinderliebe.

Psychologen rätseln, wie sich diese Art der Kinderbetreuung auf die Italiener ausgewirkt hat: Ist sie für die lebenslange, überaus enge Bindung vor allem der Jungen an die Mama verantwortlich? Führt die Hege des Babys durch die ganze Verwandtschaft zum engen Familienzusammenhalt, noch immer eines der markantesten Merkmale der italienischen Gesellschaft? Und die italienische Kommunikationsfreude — ist sie durch den ständigen Kontakt selbst mit wildfremden Leuten von Babywangen an genährt?

Fragen über Fragen, die sich die Italiener jedoch selten stellen: Hier wird wenig über Erziehung und über die Konsequenzen der verschiedenen Arten der Kinderbetreuung diskutiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kinderliebe vorausgesetzt wird (und mit der Kindesmißhandlung tagelang entsetztes, aber wenig hinterfragtes Hauptthema in den Medien ist), verhindert jede Reflexion über das, was man damit auch an Unerwünschtem anstellen kann. Das familiäre Verhältnis zu Kindern ist ein Tabuthema. Wer in einer italienischen Familien zu Besuch ist und gerade einer Erziehungsmaßnahme beiwohnt — und sei es durch eine noch so entfernte Verwandte —, der sollte sich hüten, seinen Senf dazuzugeben — er hätte sonst Aussicht, nicht wieder eingeladen zu werden.