: Wo die deutsche Dichtkunst versagt
Keine Lösung bei der Handhabung biegeschlaffer Teile — eine Sechsjahresbilanz von der Hannover Messe ■ Aus Hannover Martin Christians
Wer auf dem Gelände der Industriemesse in Hannover nach neuen Dokumenten deutscher Dichtkunst sucht, wird enttäuscht sein. Denn vom schmalen Bereich der Dichtungstechnik einmal abgesehen, gibt es sie praktisch nicht. Die Dichtungen selbst sind nicht einmal das Problem: Eine nach Quantität erkleckliche und nach Qualität recht anspruchsvolle Kollektion ist auf der Fachmesse der Zulieferer zu sehen. Aber die höchste Kunst des Umgangs mit den Dichtungen — das automatisierte Einsetzen nämlich — fehlt in den Hallen vollkommen, obwohl sie dem Schwerpunkt „Montage, Handhabung, Industrieroboter“ (MHI) vorbehalten sind. Dichtungen sind, von wenigen Einzellösungen abgesehen, noch immer nicht faßbar.
Dabei bosseln MHI-Ingenieure nun schon seit Jahren an der Handhabung der biegeschlaffen Teile herum, doch ganze Produktgruppen sträuben sich weiter gegen den technischen Machbarkeitswahn. Es geht dabei nicht nur um Dichtungen — strukturell verwandt sind auch die Schwierigkeiten der Technikerzunft mit langen Kabeln und dünnen Schläuchen. Das Problem ist so einfach, die Lösung aber so schwer: Wie kann ein Industrieroboter die Türdichtung in einen Fahrzeugrahmen einkleben, einen Kabelbaum fürs Auto anfertigen oder einen Schlauch über den Flansch eines Stutzens schieben, ohne daß das nachgiebige Material gezerrt, gestaucht, geknickt oder verdreht wird? Wie schafft es die Maschine, ein solches biegeschlaffes Teil aus einer Kiste zu fischen und in den stählernen Griff zu bekommen? Und: Wie lassen sich die Arbeitskräfte zu vertretbaren Kosten ersetzen?
Abwarten ist die erklärte Devise dieses Jahres. Bei der ABB Roboter GmbH aus Friedberg gibt es überhaupt keine Neuentwicklungen für biegeschlaffe Teile mehr. „Der Bedarf hat sich geändert“, sagt Stefan Dreyer, ABB-Vertriebsingenieur für den Geschäftsbereich Automobilbau. Noch im letzten Jahr hatte die hessische Tochter des schwedisch- schweizerischen Maschinenbau- Konglomerats einen neuen Anlauf für die Türdichtungsmontage gestartet, war dabei aber doch wieder bei einer Kombination von Mensch (Einspannen) und Maschine (Kleben) steckengeblieben (taz vom 12.4. 1991). Auch beim Augsburger Großhersteller Kuka Schweißanlagen & Roboter GmbH herrscht Zurückhaltung. „Wir forcieren die Sache nicht, denn der Markt gibt wenig her“, berichtet Kuka-Ingenieur Nüchter.
Die Auftraggeber aus der Automobilbranche sind von den bisherigen Lösungen noch nicht überzeugt. Die Opel AG, erzählen sich die Standleute in den MHI-Hallen, soll mit einem jüngst eingeführten System sogar ausgesprochen unzufrieden sein. BMW war angesichts weiterhin durchhängenden Gummis schon früher zur humanen Arbeit zurückgekehrt, nachdem ein von MBB entwickeltes Handhabungssystem nicht einmal eine 99prozentige Montagesicherheit geboten hatte (taz vom 11.4. 1989). Das Tast-System, das die Berliner Firma Robot Taktile Greifer GmbH einst als Durchbruch angeboten hatte (taz vom 1.4. 1987), ist gleich mitsamt seinem Hersteller vom Markt verschwunden. Nicht einmmal die japanische Dichtkunst scheint einen Durchbruch zu bringen. Im letzten Jahr hatte der Automatisierungsbereich der Sony Europa GmbH aus Fellbach noch über den Zweiarmroboter DRX-3DH informiert, der angeblich Gummis spannen können sollte. Doch ein Erfolg war auch 1992 in Hannover nicht in Sicht — in diesem Jahr fehlte der Sony-Stand ganz.
Unverdrossen bleibt nur das hochrenommierte Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) bei der Sache. Doch erstmals seit Jahren verzichtete das IPA darauf, ein Demonstrationsverfahren auszustellen — schließlich sind noch immer Altlasten der früheren Präsentationen zu erledigen. Der kompliziert geformte, dünne Dichtring des Jahres 1987, der bei der Motormontage verwendet werden sollte, springt noch immer aus der Nut, in die er eigentlich hineingehört. An der seit 1989 erprobten Steckermontage arbeiten in Stuttgart statt einem inzwischen vier Leute.
Und der 1988 präsentierte Wasserschlauch, der inzwischen automatisch zwischen Kühler und Motorblock installiert werden kann, verweigert sich noch der roboterisierten Befestigung — jetzt ist die Schelle das Problem. Die menschliche „Restarbeit“ ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein psychologisches Problem. Zwar hatte, wer die Schläuche manuell über den Flansch auf den Stutzen aufschob, nach zwei Jahren kaputte Handgelenke; aber etwas anderes ist es, diese Tätigkeit jetzt nebenan einen Robot erledigen zu sehen und sich nur noch mit den Schellen zu beschäftigen. Starke, weil im Rationalisierungsbereich zustimmungspflichtige Betriebsräte, weiß IPA-Mann Hans Lindner, würden darauf dringen, auch den letzten Rest noch zu automatisieren, dafür aber die betroffenen Arbeiter an einer anderen Stelle in der Fertigung einzusetzen.
Grundsätzlich, sagt Lindner, Leiter der Gruppe Industrieroboter und Handhabungssysteme, gebe es für die industrielle Anwendung ohnehin nur Sonderlösungen. Oder die Umgehung des Problems: Um die Schelle überflüssig zu machen, bietet der Schlauch- und Reifen-Spezialist Continental bereits Steckverbindungen für den Anschluß an Flüssigkeitsbehältern an, wenn auch noch nicht für die vibrationserschütterte Kühler-Motor-Connection.
Bei der Erörterung solcher Fragen bleibt allerdings ein System außen vor, das in diesem Jahr erstmals auf dem IPA-Stand ausgestellt wurde und auch die Probleme bei der Handhabung biegeschlaffer Teile lösen könnte: die virtuelle Realität. Da säße dann, mit Sichtbrille, einem Datenhandschuh und einer Steuerkugel versehen, der Arbeiter in einem schmucken Recaro-Schalensitz und würde per Handbewegung und Augenblick den Roboter steuern, der das Dichtungsprofil vorsichtig im Türrahmen montiert. Ein solcher technologischer Overkill im Kampf mit der Physik des Gummis würde zwar in einer betriebswirtschaftlichen Katastrophe enden — aber eine interessantere Form von Restarbeit ist wohl kaum vorstellbar. Die Frage ist nur, wie man die Lage der Werkstücke simulieren kann, die zu Dutzenden in einer Lieferkiste durcheinanderliegen. Gut, die Zuführung zum Greifer könnte natürlich von Hand erfolgen.
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