Lieber Chaos als Christdemokraten

■ Italiens Wahlergebnis sorgt zunächst einmal für Unregierbarkeit. Die großen Verlierer, Ministerpräsident Andreottis Christdemokraten, haben das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Zugelegt...

Lieber Chaos als Christdemokraten Italiens Wahlergebnis sorgt zunächst einmal für Unregierbarkeit. Die großen Verlierer, Ministerpräsident Andreottis Christdemokraten, haben das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Zugelegt haben vor allem Protestparteien wie die „Lega nord“, die über acht Prozent einfuhr und in der Lombardei gar stärkste Partei wurde.

AUS ROM WERNER RAITH

Arnaldo Forlani, Chef der christdemokratischen Partei, und sein Koalitionspartner Bettino Craxi von den Sozialisten hatten die Sache fein ausgesponnen: daß das Volk der herkömmlichen Parteien und Allianzen müde war, hatten auch sie erkannt. Doch mit der seit Jahrzehnten bewährten Schlitzohrigkeit hatten sie einen Slogan verbreitet, der die Wähler trotz alledem in ihre Arme treiben sollte: „Entweder wir oder das Chaos.“ „So“, resümierte der Vorsitzende der oppositionellen industrienahen Republikanischen Partei, Giorgio La Malfa, am Montag abend nach Bekanntwerden der ersten stabileren Hochrechnungen, „und nun sollten sich die Herren fragen, warum die Italiener ihnen das Chaos vorziehen“.

In der Tat: vernichtender konnte die Antwort kaum mehr ausfallen. Von fast 54 Prozent, die das bisherige Bündnis aus Christdemokraten und Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberalen im Abgeordnetenhaus vorher auf sich vereinigt hatte, blieben gerade noch 48, im Senat statt der vorherigen fast 50 nur noch 46 Prozent übrig. Die Christdemokraten rutschten bei den Deputierten um über fünf, bei den Senatoren um mehr als sechs Prozent ab. Die Sozialisten, seit Mitte der siebziger Jahre auf eine „lange Welle“ unentwegten Stimmenzuwachses bauend, verloren fast ein Prozent bei den Abgeordneten und dümpeln nun zwischen dreizehn und vierzehn Prozent. Bei den Senatoren bekamen sie nominell zweieinhalb Punkte dazu — doch auch die stellen keinen echten Zuwachs dar, denn die Vergleichszahl von früher enthält nicht die gut zehn Fraktionsmitglieder, die damals über Listenverbindungen mit anderen Parteien (etwa den Grünen) für den PSI eingerückt waren. Bei den kleineren Koalitionspartnern spielen sich die Varianten im Nullkommabereich ab.

Regieren können die bisherigen Machtinhaber also nicht mehr, selbst wenn nach der bis Ende der Woche dauernden Gegenzählung und durch den Wegfall von Miniparteien — deren Einzug an wenigen Stimmen hin- und herhängt — rein numerisch in einem oder beiden Häusern ein paar Mandate über der absoluten Mehrheit übrigbleiben dürften: In Italien ist die Abwesenheit vieler Volksvertreter auch bei wichtigen Sitzungen notorisch, zudem gibt es zahlreiche „Heckenschützen“ — Abgeordnete, die aus Verärgerung gegen die eigene Fraktion stimmen. So braucht jede Regierung ein Polster von mindestens 30 Sitzen über die rechnerischen Mehrheiten hinaus, will sie nicht schon nach wenigen Stunden stürzen.

Die Republikanische Partei (PRI), als Industriellen-Vertretung früher fester Verbündeter, hat bereits abgewinkt. Deren Abgeordnete sind vor einem Jahr auf Geheiß der Großindustriellen wegen der fehlenden Wirtschafts- und Strukturpolitik aus der Regierung ausgetreten und haben nicht die Absicht, der bisherigen Gerontokratie das Überleben zu sichern. „Die Herren in der Regierung“, so PRI-Chef La Malfa, „haben offenbar überhaupt nicht kapiert, wie tief die Unzufriedenheit der Bevölkerung sitzt.“ Durchgefallene Regierungs-VIPs machen das deutlich — nicht mehr gewählt wurde z. B. der bisherige christdemokratische Haushaltsminister Guido Carli, ehemaliger Notenbankchef. Die immer aufs neue ans Tageslicht kommenden Deckungslücken und die immense Staatsverschuldung waren ihm zum Verhängnis geworden. Auch der Sitz des bisherigen Finanzministers Rino Formica, eines Sozialisten, ist bis zur Gegenauszählung in den nächsten Tagen unsicher.

Gewinnler sind, neben den von dreieinhalb auf über vier Prozent gestiegenen Republikanern, vor allem Gruppen, die direkte Angriffe auf die derzeitige Parteienherrschaft gefahren haben. Allen voran die antizentralistischen „Ligen“ Oberitaliens um den Senator Umberto Bossi, die von knapp einem halben Prozent 1987 in beiden Kammern auf über acht Prozent gekommen sind, aber auch die Grünen, die sich zwar mehr erwartet hatten, aber ihren Stimmenanteil — bisher zwei Prozent — immerhin veranderthalbfachen konnten. Dazu kommt noch die vom ehemaligen Bürgermeister von Palermo, Orlando, geleitete „Rete“, die mit ihrem Programm gegen Mafia und Korruption auf Anhieb fast zwei Prozent erreichte.

Mit den Rechten mag sich keiner einlassen

Einen Ausweg aus der Krise weisen diese Gruppen allesamt wohl keinen. Mit den „Ligen“ zu paktieren, getraut sich wegen deren rassistischer und antizentralistischer Tendenz schon wegen des Effekts im Ausland niemand. Aus ähnlichen Gründen kommt auch die bei füneinhalb (Abgeordnetenhaus) und sechseinhalb Prozent (Senat) stabile neofaschistische Partei MSI nicht in Frage.

Und die anderen Kleinparteien sind allzu sehr auf Reinigung von Schlamperei und Mißwirtschaft aus, als daß die alten Machtinhaber sich mit ihnen einlassen könnten. So machen nun neue Gedankenspiele die Runde: sie zielen vor allem auf den Partito democratico della sinistra (PDS), die sich als Nachfolgeorganisation der 1991 aufgelösten Kommunistischen Partei versteht. Sie hat zwar nur an die 17 Prozent erhalten — während der alte PCI bei 27 Prozent stand. Doch der PDS mußte bei seiner Neugründung einen respektablen Teil seiner alten Genossen in eine neue Formation abziehen lassen, die „Rifondazione comunista“, die ihrerseits gute sechs Prozent erzielte — eine erstaunliche Festigkeit der ehemaligen Linken, die so insgesamt nur an die viereinhalb Prozent verlor.

PDS-Chef Occhetto strahlte denn am Wahlabend von einem Ohr zum anderen; er hatte gleich drei Ziele auf einmal erreicht, trotz der Reduzierung seiner Mandate um mehr als ein Drittel: Die Christdemokraten können nicht mehr regieren, der von allen Seiten prognostizierte Vorbeimarsch der Sozialisten hat nicht stattgefunden, der PDS ist damit als die führende Linkspartei bestätigt — und plötzlich reden alle ganz freundlich mit dem bisher eher von Anwürfen gedeckelten und nie recht ernstgenommenen Occhetto.

Die Aufgabe, die einer nun erwogenen „Großen Koalition“ aus DC und PDS unter Einschluß entweder der Sozalisten oder der Republikaner oder beider zukäme, wird von allen fast identisch definiert: eine schnelle Verfassungsreform mit einer Änderung des Wahlrechts, die stabilere Regierungen als bisher ermöglichen soll — etwa durch Einführung einer Drei- oder Fünfprozentklausel (derzeit liegt die Hürde bei etwa einem Prozent) oder durch zwei Wahlgänge nach französischem Rezept.

Dann, so jedenfalls die Vorstellungen der nun Gebeutelten, könne man in ein, zwei Jahren erneut zu den Urnen rufen — und sich den Kuchen der kleineren Gruppierungen, immerhin so an die 20 Prozent, untereinander aufteilen.