Ruine der Phantasie

Wie Irland nun doch das 20.Jahrhundert erreicht  ■ VON JOSEF O' CONNOR

So langsam bekomme ich den Eindruck, daß es Irland gar nicht gibt — als sei es der fruchtbaren Phantasie irgendeines magisch-realistischen Romanciers entsprossen. Denn wenn man genauer darüber nachdenkt, was ich gewöhnlich zu vermeiden suche, dann wirkt Irland einfach nicht wahr. Zwar sollte die Wahrheit unwahrscheinlicher sein als die Erfindung, denn die muß, wie Mark Twain einmal sagte, doch wenigstens einen gewissen Sinn ergeben.

Aber Irland ist unwahrscheinlicher und unglaublicher als jedes Liliput. Hier haben wir ein Land, dessen Politiker fast ausnahmslos unrettbare Idioten sind und von der Öffentlichkeit bewundernswert offen verachtet werden. Aber irgendwie schaffen sie es immer wieder, gewählt zu werden. Hier haben wir eine zutiefst konservative, patriarchalische Gesellschaft, der eine sozialistische Frau als Präsidentin vorsteht. Eines der ersten Länder in Europa, das Frauen das Stimmrecht gab, aber ein Land, in dem die Frauen chronisch in jedem einzelnen Bereich des öffentlichen Lebens unterrepräsentiert sind. Ein Land, in dem Wirtschaftsbosse schwächliche Gesetze ausnutzen, um Reichtümer anzuhäufen, aber auch ein Land, in dem ein 16jähriger Junge als Subversiver gilt, weil er ein Kondom kauft.

Wie wurde das alles möglich? Schließlich sind die Bewohner dieses eigenartigen und widersprüchlichen Landes menschlich, intelligent, bilderstürmerisch. Es ist wirklich alles sehr seltsam. Hätte Gabriel Garcia Marquez Irland erfunden, würden ihn die Kritiker für ausgeflippt erklären. Die meisten Europäer können ihrer Geschichte nicht entkommen, und daher bemühen sie sich, aus ihr zu lernen. Aber in Irland glauben wir nicht an die Geschichte. Wir glauben an die Vergangenheit, und das ist etwas anderes.

Wer zehn Meilen durchs ländliche Irland fährt, sieht Ruinen. Wir haben jede Menge Ruinen, und ganze Regierungsabteilungen kümmern sich um sie. Wir mögen Ruinen. Wir verehren unsere Ruinen und zeigen sie stolz unseren Touristen. Unsere verfallenen Schlösser, unsere Burggräben voll fauligem Wasser, unsere zerbröckelnden Zinnen, unsere schiefen Türme, unsere eingefallenen Wälle liegen uns mehr am Herzen als einige unserer Menschen. Wir in Irland haben eine Liebesaffäre mit der Architektur der Niederlage. Fährt man durch Irland, drängt sich die Frage auf: Gibt es noch ein anderes Land mit so vielen erstürmten Befestigungen? Das allein wäre schon quälend genug. Aber die Tragödie liegt darin, daß wir uns bis vor kurzem noch immer glücklos mühten, Mauern gegen die Geschichte zu errichten. Wir glaubten immer noch, wir könnten vor der Welt die Zugbrücke hochziehen, und auch vor jener traurigen Mischung aus Wohlanständigkeit, Mitleid und erschreckender Heuchelei, die wir in Irland unsere öffentliche Moral nennen.

1983 erpreßten Lobbies der extremen Rechten unsere rückgratlosen Politiker dazu, das mittlerweile berüchtigte Referendum gegen die Abtreibung zu unterstützen. Politiker und Priester sprachen im Fernsehen, um die Bäuche der Frauen zu kolonisieren — ebenso selbstsicher und rigoros, wie das Land in der Vergangenheit selbst kolonisiert worden war. Ich habe in der Kampagne gegen das Abtreibungsgesetz mitgearbeitet. Ich stand vor Wohnungstüren und sagte den Leuten, der Tag werde kommen, an dem Zivilpolizisten unsere Häfen bewachen, um irische Frauen an der Flucht vor unserer Tyrannei zu hindern. Aber wirklich habe ich das nie geglaubt. Ich habe nie geglaubt, daß wir so tief sinken könnten, wie wir es dann taten. Das war ein großer Fehler. „Wir hatten unser Herz von Phantasien ernährt“, klagte Yeats, „in unseren Feindschaften steckt mehr Substanz als in unserer Liebe.“

In Irland lieben wir Phantasien. In den schweren Jahren nach unserer hart erkämpften Unabhängigkeit webten wir ein kompliziertes Netz aus nationalen und individuellen Phantasien; das half, uns irgendwie zusammenzuhalten. Wir fingen damit an, unsere Phantasie zu nutzen. In was für einem Land würden wir gerne leben? In einem menschlichen Land, dachten wir, einem sicheren Land. Dann begannen, leider, unsere Phantasien mit uns durchzugehen. Bald wünschten wir uns ein perfektes Land. So verschlossen wir unsere Türen vor der Welt.

Langsam wurden wir zu der Insel, die wir zuvor nur im rein geographischen Sinne gewesen waren. Wir sagten uns, wir hätten nicht die Probleme eines modernen, sich entwickelnden Staates. Wir kannten keine Abtreibungen oder scheiternde Ehen. Selbsttäuschung wurde zu so etwas wie einem Nationalsport. Schließlich erfanden wir uns selbst. Wir wurden ganz einfach eine Gesellschaft, die es nicht gab. Wir wurden ein Roman. Dann ist es passiert. Europas berühmtestes und anonymstes 14jähriges Mädchen durfte das Land nicht für eine Abtreibung verlassen. X nannten wir sie in den Zeitungen. Und die halbwüchsige Grausamkeit des irischen Lebens, die immer dicht unter der Oberfläche wartet, trat hervor, um unser erfundenes Bild von uns selbst zu verteidigen. Deshalb sollte man den Richtern unseres Obersten Gerichts gratulieren. Weil sie am 6.März 1992 in Dublin, an einem kalten und regnerischen Nachmittag, sehr sanft entschieden, nun sei es an der Zeit, der Phantasie Einhalt zu gebieten. 6.März 1992. Der Tag, an dem das 20.Jahrhundert nach Irland kam.

Und jetzt müssen wir uns fragen, welche Art neuer Phantasie wir uns wünschen. Die Iren sind immer Flüchtlinge gewesen. In der Geschichte haben wir unsere Armen, unsere Ungebildeten, unsere Schwachen exportiert. Aber wir sind auch eine Art Sibirien mit Guinness. Wir sind ein Land von Flüchtlingen, die nie fortgehen. In Irland ist man ein Flüchtling, wenn man als Mann einen anderen Mann lieben will. Ein X. Ist man als Frau in einer brutalen und lieblosen Ehe gefangen, wird man ebenfalls zur Unperson. Als Schulkind lernt man Sexualmoral von Menschen, die wirklich noch an die Hölle glauben. Als Zigeuner wird man von den Lagerplätzen verjagt. Ist jemand Protestant, Jude, Quäker, Moslem, Atheist — wir werden ihn tolerieren, aber dazugehören wird er nie. Uns Iren, müssen Sie wissen, amüsieren Menschen, die anders sind; das gehört zu den Dingen, für die wir berühmt sind: Wir mögen Außenseiter. Solange sie draußen bleiben. Solange sie nicht plötzlich glauben, sie hätten ein Recht, dazuzugehören.

Aber jetzt leben wir in einer erregenden Zeit. Endlich liegen die alten Phantasien in Ruinen, die ebenso real sind wie die zerbröckelnden Burgen in unseren Feldern, und wenn wir uns von dem Schock erholt haben, müssen wir mit dem Wiederaufbau beginnen. Natürlich gibt es immer noch einige Fiktionen, die wir über Bord werfen müssen. In der Vergangenheit, die wir so sehr lieben, erzählten wir uns gewöhnlich, wir Iren hätten keine Probleme außer England. Ein paar von uns erzählen sich das immer noch. Oder wir erzählen es anderen, durch das Visier eines Ak-47-Gewehrs, oder aus der sicheren Entfernung, aus der wir eine Bombe explodieren lassen, die Menschen in blutige Stücke zerreißt, im Namen eines windgepeitschten Fleckchens Erde namens Irland.

Auch das ändert sich. Wir beginnen zu erkennen, daß Irland einfach Irland ist, und daß die Behauptung, Irland sei es wert, dafür zu töten oder zu sterben, die gemeinste Phantasie von allen ist. Wir sind in der letzten Zeit alle ein bißchen bestraft worden. Vielleicht schließen wir jetzt ein Kapitel des Romans, den wir aus uns selbst gemacht haben. Neue Phantasien warten darauf, ersonnen zu werden. Phantasien der Teilnahme, der Demokratie, der Toleranz und vielleicht sogar der Liebe.

Die Mauern, die wir gebaut haben, um die Geschichte draußen zu halten, sind noch immer sehr hoch. Aber wir in Irland beginnen zu erkennen, was Europa bereits weiß: Daß die Geschichte letzten Endes beherrscht wird von den Namenlosen, allen X dieser Welt, und daß auch früher schon Mauern geborsten sind vor der unwiderstehlichen Wucht menschlicher Wünsche.

Der 29jährige Schriftsteller lebt in London. Er veröffentlichte bisher den Roman „Cowboys and Indians“ (1990) und die Kurzgeschichtensammlung „True Believers“ (1991). Aus dem Englischen von Meino Büning.