Ratlose Riesen SPD und CDU nähern sich an

■ Kanzler Kohl buhlt um die Stimmen der SPD. Als Bedingung für einen Dialog mit der Regierung nannte SPD-Parteichef Björn Engholm gestern einen Kassensturz und eine Beteiligung an der Gestaltung...

Ratlose Riesen SPD und CDU nähern sich an Kanzler Kohl buhlt um die Stimmen der SPD. Als Bedingung für einen Dialog mit der Regierung nannte SPD-Parteichef Björn Engholm gestern einen Kassensturz und eine Beteiligung an der Gestaltung der deutschen Einheit. Was aber Regierung und Opposition zu den Themen Asyl, Finanzen und Maastrichter Europaverträge vorzuschlagen haben, liegt noch im dunkeln.

Schon seit Wochen redet der Kanzler sehnsüchtig von der wahlfreien Zeit, den kommenden achtzehn Monaten, in denen endlich wieder ungestört regiert werden kann. Das unrühmliche Wahlergebnis vom Wochenende, das den dickhäutigen Helmut Kohl scheinbar wenig rührt, veranlaßt ihn immerhin zu einem pfleglicheren Umgang mit der sozialdemokratischen Opposition.

Was am Montag nach der Wahl vage anvisiert wurde, gewinnt Konturen: Kohl will nach Ostern „die Initiative zu sachbezogenen Gesprächen über eine Reihe von Einzelthemen mit Vertretern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ergreifen. In diese Gespräche möchte ich die Ministerpräsidenten und Ersten Bürgermeister der von der SPD regierten Länder einbeziehen.“ Drei Themen nennt der Kanzler: Erstens das Schengener Abkommen und eine europäische Regelung des Asylrechts, vorab die Revision des Grundgesetzes.

Zweitens die Ratifizierung der Maastrichter Verträge, die verfassungsändernd sind und deshalb der Zustimmung der SPD bedürfen. Hier bewegen sich Regierung und SPD aufeinander zu. Schließlich der dickste Brocken: die „unerläßliche Neuordnung in den Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden“. Sprich: was kostet die deutsche Einheit, und wer soll sie bezahlen?

Rücken Regierung und SPD also enger zusammen, bahnt sich nach dem Wahldebakel der Volksparteien am Sonntag eine De-facto-Koalition an, die in einer echten Großen enden könnte? Bis jetzt denken Union wie SPD daran nur mit Grausen. Die CDU liefe Gefahr, den Rechtsparteien erst recht zur Blüte zu verhelfen. Die SPD, obwohl sie sich prinzipiell und mental gern mitregierend sähe, hat wenig Grund, ausgerechnet jetzt die Verantwortung für das pleiteträchtige Unternehmen deutsche Einheit auf sich zu laden. Und Helmut Kohl, der sich die Rolle als alleiniger Kanzler der Einheit zugeordnet und angemaßt hat, dürfte bei allzuviel Mitwirkung der SPD Gefahr für diesen Nimbus wittern.

Die beteiligten Akteure steuern die neue Gemeinsamkeit also mit Augenmaß an. Der Kanzler will sie auf Themen beschränken, bei denen er die SPD-Stimmen braucht und will sich die sozialdemokratischen Gesprächspartner aussuchen, die SPD nennt ihre Bedingungen: eine klare Bilanz über die Staatsfinanzen, sie will nicht nur herhalten für mögliche unpopuläre Finanzbeschlüsse, sondern mitgestalten. So Björn Engholm, Hans-Ulrich Klose, Oskar Lafontaine in den beiden letzten Tage in ungewohnter Eintracht.

Was aber Regierung und Opposition eigentlich zu den Themen vorzuschlagen haben, die nach beidseitigem Bekunden besprochen werden sollen, liegt trotz inflationären Beschwörungen von Wahrheit und Ehrlichkeit weiter im dunkeln.

Die Wählerschaft vermißt, wie jeder Politiker seit Sonntag betont, handelndes und wahrhaftiges politisches Führungspersonal. Helmut Kohl geht in seinem Gesprächsangebot an die SPD ehrlich nur mit seinem Motiv um: „Die Wähler haben am 5. April klar zum Ausdruck gebracht, daß sie jetzt die rasche Lösung drängender politischer Probleme erwarten.“ Zum Thema Asyl agiert die Union aber wie gehabt: Die SPD, die inzwischen überdeutlich signalisiert, daß das Grundgesetz unter bestimmten Bedingungen geändert werden könnte (siehe Seite 2) wird als Blockierer und Verweigerer vorgeführt, über Einwanderungspolitik denkt die Union weiterhin einfach nicht nach. Die schwierige Frage nach der Entwicklung in den neuen Ländern behandeln Regierung und Opposition, allen Rufen nach Wahrheit zum Trotz, unverdrossen unaufrichtig: doppelte Botschaft bei beiden Volksparteien. Die CDU und der Bundeskanzler rufen zwar nach „neuen Prioritäten“ und schließen weitere Sozialleistungen aus.

Aber die Behauptung, daß es keinem schlechter gehen werde, die sich im Osten bereits als Lüge erwiesen hat, wird für die Westbürger aufrechterhalten. Die SPD wiederum ruft laut nach Kassensturz, Lafontaine beziffert die Einheitskosten auf 2.000 Milliarden Mark — und suggeriert gleichzeitig, daß die großen und nicht die kleinen Leute zahlen müßten, wenn die SPD am Ruder wäre.

Vor der Wahrheit schrecken beide Volksparteien zurück. Weder sagt der Kanzler, was er in der wahlfreien Regierungszeit vorhat, noch unterlegt die SPD ihre Kassandra-Urteile über die Kosten der deutschen Einheit mit konkreten Vorschlägen, woher das Geld kommen soll. Statt dessen präsentiert Fraktions- und Parteivize Wolfgang Thierse in der gestern vorgestellten Broschüre zur düsteren Lage in den neuen Ländern (Titel: „Vor dem Aufschwung steht die Wahrheit“) einen Wunschzettel von Forderungen ohne Finanzierungsquellen. Björn Engholm verlangt in seiner Antwort auf Kohls Gesprächsankündigung Konzepte und Vorschläge der Bundesregierung zur Haushalts- und Finanzlage und verzichtet auf eigene. Besser kann der Mißerfolg von Gesprächen eigentlich nicht vorbereitet werden. Die SPD hat weder für sich selbst noch für die Öffentlichkeit Maßstäbe formuliert, also wird der Kanzler weiter machen, was er will. Tissy Bruns, Bonn