Inflation: Wird die D-Mark eine weiche Währung?

■ Westdeutsche fürchten den Verlust des Wohlstands durch die deutsche Einheit/ Staatsverschuldung und Inflation werden zu wahlentscheidenden Themen

Das kollektive Gedächtnis ist lang. Die Begriffe Inflation und Rezession lassen die Deutschen an 1923 denken, als die Jahresinflationsrate 32.400 Prozent erreichte, das Geld nichts mehr wert war und Lebensmittel unbezahlbar wurden. Meine Urgroßmutter tauschte gar ihr Haus gegen ein Pfund Butter ein. Als Mitte 1991 die Solidaritätsabgabe eingeführt und die Mineralölsteuern erhöht wurden, auch die Preise für andere Waren zu steigen begannen, ist die Staatsverschuldung neben der Asylfrage zum wichtigsten, weil wahlentscheidenden Thema der Politik geworden. In Westdeutschland wächst die Furcht vor dem Verlust des Wohlstands. 1992 könnte die Inflationsrate in der Bundesrepublik auf fünf Prozent klettern, nachdem sie in den späten 80er Jahren unter drei Prozent lag. Und die Wirtschaft wird 1992 um nur 1,5 bis zwei Prozent wachsen, nach bis zu vier Prozent in den Boom-Jahren.

Nach der Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR am 1.Juli 1990 stiegen zuerst die Preise für Gebrauchtwagen, dann in den Ballungsräumen die Mieten. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres kletterten gar die Preise für Lebensmittel. Äpfel beispielsweise kosteten im Januar 32 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Daß im März 1992 der „Anstieg der Verbraucherpreise“ vom Statistischen Bundesamt nur mit 4,7 Prozent angegeben wurde, obwohl die meisten BundesbürgerInnen den Eindruck haben, das Leben habe sich viel drastischer verteuert, hängt mit der Berechnung der Statistik zusammen: Unter den 750 Waren und Dienstleistungen, die auf dem Einkaufszettel der Statistiker stehen, befinden sich auch Videorekorder und Stereoanlagen, die billiger wurden.

Per Definition ist Inflation ein „Prozeß anhaltender Preisniveausteigerungen bzw. anhaltender Geldentwertung“, so Vahlens Wirtschaftslexikon. Inflation entsteht, wenn die Geldmenge schneller wächst als das Sozialprodukt; dem in Umlauf befindlichen Geld also kein entsprechendes Angebot an Waren und Dienstleistungen gegenübersteht. Der Startschuß für schneller steigende Preise war die Wirtschafts- und Währungsunion. Die DDR- Mark wurde 1:1 in D-Mark umgetauscht, die Sparguthaben 1:2, obwohl die DDR-Mark nur etwa ein Drittel soviel wert war wie das Westgeld. Die Bundesbank druckte Geld und schaufelte in kürzester Zeit 180 Milliarden Mark nach Ostdeutschland. Ein dieser Summe entsprechendes Waren- und Dienstleistungsangebot gab es nicht in der DDR. Zusätzlich beschleunigte die D-Mark den Zusammenbruch der Ost-Wirtschaft, deren Produkte zu Westpreisen über Nacht unverkäuflich wurden — die Schere zwischen dem Geldwert und dem Sozialprodukt öffnete sich weiter.

Nun konnte sich die reiche Bundesrepublik West durchaus diese 180 Milliarden Mark leisten, ohne sofort die D-Mark aufzuweichen. Doch in der Folge wurde und wird der Wirtschaftsaufbau Ost (für den 1991 150 Milliarden Mark, 1992 180 Milliarden Mark aus den Staatskassen überwiesen werden) zum großen Teil mit Krediten finanziert. Die gesamte Staatsverschuldung wird 1992 auf 1,3 Billionen Mark ansteigen.

Kredite kosten Zinsen: 102 Milliarden Mark müssen Bund, Länder und Gemeinden in diesem Jahr für ihre Schulden zahlen — knapp jede zehnte Mark. Der Bund gibt dieses Jahr mehr Geld für den Zinsdienst (55 Mrd. DM) als für die Verteidigung (52 Mrd. DM) aus. Durch weitere Neuverschuldung, Zins und Zinseszins könnte der staatliche Schuldenberg in den nächsten drei Jahren leicht auf zwei Billionen Mark (eine Zahl mit zwölf Nullen) anwachsen, prophezeit der Präsident der bayrischen Landeszentralbank, Lothar Müller. Im Februar mahnte die Bundesbank die Bundesregierung eindringlich zum ernsthaften Sparen. Andernfalls stünde der Staat bald vor der Situation, seine gesamten Steuereinnahmen für den Schuldendienst verwenden zu müssen.

Die Bundesbanker sehen sich ohnehin in der Zwickmühle. Ihr gesetzlicher Auftrag ist es, die D-Mark stabil zu halten. Sie versuchen daher, die Menge des in Umlauf befindlichen Geldes im Verhältnis zum Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen zu halten. Wichtigstes Instrument dazu sind die Leitzinsen, welche die Bundesbanker in den vergangenen zwei Jahren viermal angehoben haben. Normalerweise bremsen hohe Zinsen die Neigung der UnternehmerInnen, der VerbraucherInnen und auch des Staates, sich die so verteuerten Kredite zu beschaffen. Der Mechanismus funktioniert diesmal jedoch nicht: Für den Aufbau Ost zahlt der Staat Subventionen. Rund ein Sechstel aller im Jahr 1991 von den Banken vergebenen Kredite waren künstlich zinsverbilligt.

Die Staatsfinanzen und die Inflationsrate sähen automatisch besser aus, wenn insgesamt das Wirtschaftswachstum höher wäre. Jedes Prozent Wachstum spült automatisch 17 Milliarden Mark Mehreinnahmen in die Staatskassen. Und bei einer deutlichen Zunahme der Produktion von Waren und Dienstleistungen hätte die Geldmenge schneller wieder einen Bezug zur wirtschaftlichen Realität. Nur: Mit ein bis zwei Jahren Verspätung hat die Flaute der Weltwirtschaft auch die Bundesrepublik erreicht, die Wirtschaft wird 1992 bestenfalls um zwei Prozent wachsen. Eine Rezession, also ein Schrumpfprozeß, ist das nicht, allerdings nach den vergangenen Boomjahren mit bis zu vier Prozent ein deutlicher Rückgang. Zum Vergleich: In den anderen EG-Ländern und den USA wird ein Wachstum zwischen 0,5 Prozent und zwei Prozent freudig als Ende der Rezession begrüßt. Eine Inflationsrate zwischen vier und fünf Prozent würde in den südlichen EG-Ländern als Stabilitätszeichen gewertet.

Beunruhigend an der derzeitigen finanziellen Situtation im vereinten Deutschenland ist der Umgang der Bundesregierung mit den Problemen, die sich aus der Staatsverschuldung in den nächsten Jahren ergeben werden, wenn sie alles so weiterlaufen läßt wie bisher. Nach wie vor behauptet Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU), die jährliche Neuverschuldung könne bis 1995 halbiert werden. Gegen diese Annahme spricht so ziemlich alles. Der Kreditabwicklungsfond, in dem die Staatsschulden der ehemaligen DDR geparkt sind, soll Ende 1993 aufgelöst werden. Für die 100 Milliarden Mark Minus muß der Staat geradestehen, die Frage ist nur, wieviel davon die Länder tragen müssen und wieviel der Bund. Ebenfalls bis Ende 1993 werden die ostdeutschen Wohnungsbauunternehmen 50 Milliarden Mark Schulden gemacht haben. Und die Treuhandanstalt wird in diesem Jahr Kredite bis 38 Milliarden Mark aufnehmen dürfen, nach 25 Milliarden Mark Defizit 1991.

Der weiteren Staatsverschuldung könnte die Bundesregierung durch Sparen entgegenwirken. Stattdessen spendierte sie erst Mitte März 1,4 Milliarden Mark neue Subventionen für die Landwirte. Nicht aufgegeben wird der milliardenteure Jäger 90. Steuergeschenke will die Koalition 1993 den reichsten BundesbürgerInnen machen, indem sie den Spitzensteuersatz von 53 auf 46 Prozent senkt. Das Haushaltsdefizit und damit die Inflationsrate werden weiter steigen. Dazu tragen auch die neuen Einnahmequellen bei: die Erhöhung der Sozialabgaben und der Mehrwertsteuern. Die Gewerkschaften fordern dafür einen Ausgleich bei den Lohnerhöhungen. Das schraubt die Preis-Lohn-Spirale weiter hoch, beschleunigt also die Inflation. Donata Riedel