KIRCHENGEMEINDE RETTET LITERATUR VON OSTDEUTSCHEN MÜLLKIPPEN

Pastor liefert bis nach Tirana

Katlenburg (taz) — Auch aus dem Ausland gibt es mittlerweile Nachfragen nach Büchern aus der ehemaligen DDR. Ostdeutsche Verlage hatten sie nach der Wende einfach weggeworfen. Doch eine Kirchengemeinde im südniedersächsischen Katlenburg rettete das Material im vergangenen Herbst in einer spektakulären „Rückholaktion“ vor dem Reißwolf.

Pastor Martin Weskott, Pfarrer der Katlenburger St.-Johannes-Gemeinde, sagte gegenüber der taz, Anfang dieser Woche habe die Deutsch- Albanische Freundschaftsgesellschaft in Hamburg einen größeren Posten Literatur geordert. Die Bücher sollten Germanistik-Studenten in Tirana und anderen Städten des Balkan-Staates zur Verfügung gestellt werden. Nach Auskunft der Freundschaftsgesellschaft läßt sich deutschsprachige Literatur in Albanien ansonsten kaum beschaffen. Bereits an diesem Wochenende soll eine Fuhre Bücher-Post nach Südosteuropa abgehen.

Weskott berichtete auch von „immer neuen Anfragen“ durch Büchereien und andere Einrichtungen aus den neuen Bundesländern. So habe die Pestalozzi-Schule für Frühförderung im thüringischen Mühlhausen für „ganze Schülerjahrgänge“ Malbögen und Bilderbücher bei ihm geordert. Mehrere Kindergärten in Obereichsfeld hätten Bastelbögen bestellt. Darüber hinaus, so Weskott, gingen in Katlenburg selbstverständlich auch die sonntäglichen „Bücher-Basare“ weiter, bei denen Literatur an interessierte Bürger zugunsten einer Spende für die karitative Organisation „Brot für die Welt“ abgegeben wird.

Im Zuge des Verfalls der DDR — und meist auf Anweisung der neuen Herren aus dem Westen — hatten zahlreiche ostdeutsche Verlage und Buchhandlungen ihre Bestände entrümpelt und Hunderttausende, teilweise noch in Plastikfolien eingeschweißte Bücher einfach weggeworfen. Dabei waren auch neuere und mehr oder weniger frisch gedruckte Werke so bekannter Autoren wie Ernesto Cardenal, Leo Tolstoi, Stefan Heym oder Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf die ostdeutschen Müllkippen gewandert. Fast 30.000 Bände — „Prosa, Poesie, Sach- und Kinderbücher“, so Pastor Weskott — konnte die Katlenburger Kirchengemeinde bis heute vor der Vernichtung bewahren und in ihren Kirchenräumen „zwischenlagern“.

Über die Auffüllung ihrer Lager brauchen sich Weskott und seine Mitstreiter vom Kirchenvorstand keine Sorgen zu machen. Mindestens einmal pro Monat startet von Katlenburg aus ein Lastwagen in Richtung Sachsen, um sich von verschiedenen Halden und Müllkippen rund um Leipzig mit „Nachschub“ zu versorgen.

Die Katlenburger Kirchengemeinde hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker darum gebeten, die Schirmherrschaft für die Aktion „Bücher aus der ehemaligen DDR für Brot für die Welt“ zu übernehmen, was dieser jedoch inzwischen abgelehnt hat. In einem Brief an den Katlenburger Kirchenvorstand bittet das Bundespräsidialamt um Verständnis für den Entschluß Weizsäckers. Das Staatsoberhaupt müsse mit dem Instrument der Schirmherrschaft „aus allgemeinen Gründen außerordentlich sparsam umgehen“. Zudem lägen „besondere Hinderungsgründe“ vor, weil Richard von Weizsäcker als Autor von der Aktion unmittelbar mitbetroffen sei. Reimar Paul