Rousseau, Kant, Goethe

Zwei Studien Ernst Cassirers zur Ideengeschichte des 18.Jahrhunderts erstmals in deutscher Originalfassung  ■ Von Mark Dahlhoff

Auch wenn die beiden Aufsätze verschiedene Gegenstände behandeln, so haben sie doch ein gemeinsames Thema: „Sie versuchen, aus verschiedenen Perspektiven die Kultur des 18.Jahrhunderts [...] und das Meinungsklima, aus dem diese Kultur hervorging, zu veranschaulichen.“ Das Ergebnis ist nicht irgendeine weitere Untersuchung über das kulturelle Leben des 18.Jahrhunderts, sondern der Versuch, Leben und Lehre dieser so grundverschiedenen Denker in einen neuartigen Bezug zu bringen. Gemäß dem Fichteschen Motto „Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist“, stößt Cassirer in ungeahnte Tiefen einer geistigen Verbindung dieser drei herausragenden Persönlichkeiten der Ideengeschichte des 18.Jahrhunderts vor. Als vorzüglicher Kant-Kenner bringt er die selbsterklärten Nichtphilosophen Rousseau und Goethe in Nähe zum Kantischen Denken, ohne sich dabei rein von philologischen Aspekten oder gar persönlichen Kontakten der drei leiten zu lassen.

„Das 18. Jahrhundert lebte in dem Glauben an Vernunft und Wissenschaft, und es sah in beiden ,des Menschen allerhöchste Kraft‘. Es war überzeugt, daß es nur der vollkommenen Entwicklung des Verstandes, nur einer Ausbildung aller geistigen Kräfte bedürfe, um den Menschen auch innerlich umzuschaffen und eine neue glückliche Menschheit heraufzuführen. Aber Rousseau hatte mit diesem Glauben gebrochen“, und er hat dies mit seelischen und geistigen Krisen bis hin zum Einsiedlerdasein bezahlt.

Wie konnte aber ein scharfer Analytiker wie Kant angesichts dieser „irrationalen Gewalten“ feststellen: „Rousseau hat mich zurechtgebracht“? Es ist eine „gemeinsame große Aufgabe“, die Kant mit Rousseau verbindet. Beide treten enthusiastisch für eine Rechtsidee ein, die auf eine Stärkung des Unabhängigkeitssinnes des Einzelmenschen zielt. Durch einen gewaltigen Angriff auf den konventionellen Menschen, den „homme de l'homme“, versuchte Rousseau den „homme de la nature“, die Natürlichkeit und Empfindsamkeit des Menschen zu retten. Der junge Kant zählte zu den wenigen Zeitgenossen Rousseaus, die von der sittlichen Dimension dieses engagierten Eintretens beeindruckt waren, denn auch er stritt für die Sittlichkeit des einzelnen Subjekts, seine Eigenverantwortlichkeit und sittliche Entscheidungsfreiheit. So konnten sich Kant und Rousseau in der Verurteilung der Abhängigkeit des Menschen begegnen.

Bemerkenswert ist aber auch, wie Cassirer das geistige Band zwischen Goethe und dem Kantischen Denken spinnt. Auch hier steht am Anfang die Frage, was kann so unterschiedliche Charaktere wie einen sich ganz der Newtonschen Mechanik anvertrauenden Kant und einen Goethe, der eine solche Durchdringung von Naturlehre und Mathematik strikt ablehnte, verbinden? Cassirer genügt schon ein einziger Hinweis in Goethes Spätwerk, um eine höchst bemerkenswerte Linie von Goethe zur Kantischen Philosophie zu ziehen. „Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine Metamorphose der Pflanzen habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre.“

Auch wenn es zunächst paradox erscheint, daß Goethes Metamorphose der Pflanzen mit Kants Naturlehre zu tun haben soll, so erschließt sich Cassirer durch die ihn auszeichnende Art des Fragens selbst aus dem schärfsten Gegensatz eine tiefe Verwandtschaft. Es ist die beiden gemeinsame Idee einer Begründbarkeit von Bedingungen der Biologie (Linné) oder der Substanz-Metaphysik (Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie), darin sich Goethe und Kant begegnen. Gegen die statische Denkweise in allen Bereichen des Lebens im 18.Jahrhundert richtet sich ihr genetischer Blick, der nach einer tieferen Einheit, dem Prinzip der natura naturans oder nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung forscht. Sowohl Goethe wie Rousseau gewinnen so im Lichte eines Kantischen Denkansatzes eine Spiegelfunktion, durch die neue Denkschattierungen der Kultur des 18.Jahrhunderts hervortreten — beide darin Opponenten gegen ihre Zeit.

Hinzuweisen bleibt auf die deutlichen Spuren einer eifrigen Herausgebertätigkeit. Der eigentliche Haupttext Cassirers wurde von R.A. Bast eingebettet in den Rahmen einer ausführlichen Einleitung (plus Vita), einer aktualisierenden Bibliographie und eines umfangreichen Anmerkungsapparates. Bei einer solchen Materialfülle ist fraglich, ob der Leser diese Zusatzinformationen in vollem Umfang nutzen kann, zumal die Einheitlichkeit des Ausgangstextes dabei verloren zu gehen droht. Denn es entstehen weitere Ebenen wie der Sekundär- (Anmerkungen des Verfassers) und der Tertiärtext (Anmerkungen des Herausgebers). Es fragt sich, wer dieses Angebot, durch das der Haupttext auf den doppelten Umfang anwächst, noch wahrnehmen will — vor allem bei einem Text, der nicht auf ein wissenschaftliches Fachpublikum zielt, sondern Philosophie wieder lesbar machen kann.

Ernst Cassirer: Rousseau, Kant, Goethe. Hrsg. von R.A. Bast, Verlag Felix Meiner, 208Seiten, kart., 32DM.