Vom Disput zum Monolog

■ Peter Weiss' Krankheitsjournal von 1970

Am 6.Juni 1970 ereilt den Maler, Filmemacher, Schriftsteller Peter Weiss in seinem Stockholmer Exil eine schwere Krankheit, die ihn für ein halbes Jahr ins Bett zwingt. Die Arbeit am Hölderlin-Drama wird unterbrochen. Kurz zuvor war der Sozialist Weiss aufgrund seines Stücks Trotzki im Exil von der DDR zum Renegaten, zum „Sowjetfeind“ erklärt worden. Zwischen dem 10.August 1970 und dem 1.Januar 1971 führt Weiss gegen seine sonstige Gewohnheit ein Tagebuch; er gibt ihm den Titel Rekonvaleszenz. Aus dem Nachlaß des 1982 verstorbenen Autors ist das Bändchen jetzt veröffentlicht.

Es ist alles andere als ein privates Journal. Mehr denn je offenbart Weiss sich auf dem Krankenbett als Kämpfer, als Polemiker und Kritiker auch der Zustände in dem Land, das ihn als Staatsbürger aufgenommen hat. Rekonvaleszenz ist darüber hinaus aber auch ein luzider Selbstkommentar zu Weiss' poetischem Werk.

Zwei differente Motivschübe prägen das Journal: die Beschäftigung mit den Beschädigungen des eigenen Ich (die „Selbsttherapie“) und die mit den politischen Prozessen der Zeit. Im Marat/Sade (1964) — dem Drama, das den Autor im Alter von immerhin 48 Jahren berühmt machte — hat Weiss den eigenen Antagonismus in zwei extremen Figuren verkörpert: der blutrünstige Revolutionär Jean Paul Marat und der radikale Individualist de Sade diskutieren die Revolution. Endete diese Konfrontation zweier Standpunkte sozusagen unentschieden, legte Weiss sich wenig später verbindlich auf die marxistische Weltsicht fest: ein Prozeß der Selbstentlastung und der Harmonisierung innerer Widersprüche, dessen Scheitern sich im Ausbruch der Krankheit manifestiert.

Das Krankheitsjournal zeigt nämlich, wie tief, bis an die Wurzeln des eigenen Ich, Weiss in Wahrheit zerrissen war zwischen ge- und entfesselter Triebwelt einerseits und politisch-ideologischer Raison andererseits, zwischen dem Chaos der Anarchie und dem Logos der Aufklärung und Vernunft. Die anarchische Komponente ist durchaus nicht unpolitisch: am Paradigma des Marquis de Sade ist das abzulesen. Aber es wohnt ihr ein bis zur Selbstzerstörung gewaltsamer Zug inne. Immer wieder kokettiert Weiss mit Protagonisten revolutionärer Gewalt, zumal in der Dritten Welt: Che Guevara etwa ist in seinem Werk eine ikonographisch strahlende Figur, an der gemessen die wächsernen Bürokraten des östlichen Apparats still verblassen. Vielleicht gerade wegen dieser Faszination durch die Gewalt der Selbstbefreiung entwickelt Weiss das Bedürfnis, den anarchischen Impuls in sich zu disziplinieren. Beim Lesen des Journals spürt man seinen Drang, die aggressive Wut über die versteinerten Verhältnisse in der westlichen Welt in das Zwangskorsett der Loyalität gegenüber dem Sowjetkommunismus und der KPdSU zu stecken: „Wenn eine Veränderung überhaupt möglich ist, so kann sie nur aus einer inneren Veränderung dieser Partei kommen...“ Zähneknirschend bleibt Weiss dem Modell der „Reformpolitik“ Moskauer Provenienz treu, obwohl er keineswegs blind ist für die Verkrustung der Partei, für ihre geistige Isolation, für den „hermetischen Hochmut“ gegenüber Andersdenkenden oder auch nur minimalen Abweichlern innerhalb des eigenen Lagers. Vom „dritten Weg“, den Weiss einst propagierte (oder suchte), ist nicht mehr die Rede; nur noch von „Dualismus“.

Die Formel vom „inneren Disput“ kennzeichnet sehr schön den Prozeß, der sich in diesem Buch (wie im ganzen Werk) abbildet, aber der innere Disput ist nur ein verzweifelter Ersatz für den von Moskau und Ost-Berlin verweigerten offenen Disput, für das „kontroversielle“ Aushandeln unterschiedlicher Standpunkte oder Strategien. Einmal bemerkt Weiss, wie Nixon und Gromyko, auf den vergoldeten Stühlen des Weißen Hauses sitzend, einander für Augenblicke „zum Verwechseln ähnlich“ sehen. Das Bild ist symptomatisch: Die Repräsentanten der Weltmächte erstarren im Uniform- Paternalistischen; im Bemühen, miteinander handelseinig zu werden, unterdrücken sie jeden vitalen Impuls, vor allem den zur Veränderung. In seiner Bereitschaft, das Projekt der Weltrevolution ernstzunehmen, sieht Weiss sich bitter enttäuscht: vor allem von denen, die die Rolle der Projektleitung für sich reklamiert hatten.

Die dunkle, anarchische, individualistische Seite wird der rigorosen Selbstdisziplin, der manischen Arbeitswut des Gesellschaftsforschers und Dokumentaristen Peter Weiss geopfert. Rückblickend nimmt dieses Opfer um so mehr tragische Züge an, als sich spätestens mit der Apokalypse des Sowjetkommunismus gezeigt hat, daß Weiss' Hoffnung auf den goldenen Boden der „Reformpolitik“ in Wahrheit auf Sand gebaut war. Dieser Gesellschaftskritiker, der mutig genug war, sich zwischen alle Stühle zu setzen, war nicht hellsichtig genug, sich mit den eigenen Widersprüchen zu versöhnen. In den unzensierten, spontanen Notizen des Journals sind sie aufgehoben, mitsamt der Wut auf die Verhältnisse, die dieser Autor nicht nur abbilden, sondern (schreibend) verändern wollte. Martin Krumbholz

Peter Weiss: Rekonvaleszenz. Suhrkamp-Verlag, 214S. 14 DM.