Woher kommt das Seil?

■ Bestrafung eines Unschuldigen, um das Versagen des Wachpersonals zu vertuschen

Am 30. April findet im Amtsgericht Bruchsal um 9 Uhr eine Gerichtsverhandlung gegen M. E. wegen versuchter Gefangenenbefreiung statt. Dem liegt folgender Vorfall zugrunde: Am Samstag, dem 28. September 91, wird während des Hofgangs (von 8 bis 10 Uhr) ein Seil von außen über die Knastmauer geworfen, etwa um 8 Uhr 20, und obwohl zwei Wachtürme auf der Mauer besetzt sind und sich zwei weitere Vollzugsbeamte im Hof befinden, wird das Seil nicht bemerkt. Erst um 9 Uhr 47, als schon kein Gefangener mehr im Hof ist, findet die Ablösung für einen der Mauerposten das Seil. Hektik, Einschluß, Sonderkontrolle, aber niemand fehlt.

Nun meldet sich einer der etwa 50 Gefangenen, die im Hof waren, beim Sicherheitsinspektor und meldet, er habe einen Gefangenen bemerkt, der dieses Seil wieder zurückgeworfen habe (demnach muß es also ein zweites Mal über die Mauer geworfen worden sein). Er beschreibt den Gefangenen und laut Sicherheitschef Zwettler kann diese Beschreibung nur auf mich passen. Ich werde ohne Angabe von Gründen in Einzelhaft gesteckt, der Denunziant identifiziert mich einen Tag später als denjenigen, der das Seil zurückgeworfen haben soll. Seine Angaben werden jedoch von niemand verifiziert, inoffiziell gibt es zwar Gerüchte, nach denen ich versucht haben soll, an diesem Seil die Mauer zu überklettern und dabei abgerutscht wäre, aber es gibt keine offizielle Aussage. So muß mich der Anstaltsleiter auf meine Proteste hin zwei Tage später aus der Einzelhaft entlassen, der Verdacht gegen mich ist jedoch nicht ausgeräumt. Dazu sollte man wissen, daß ich als „gefährlich“ gelte, bereits zweimal ausgebrochen bin, allerdings ohne jede Gewalt, es entstand lediglich 7 Mark 62 Sachschaden (durchgesägtes Fenstergitter). In beiden Fällen sah allerdings die Justiz nicht besonders gut aus. Außerdem läuft gegen mich ein Verfahren wegen versuchtem Polizistenmord aus der Zeit nach meinem Ausbruch. Dieses Verfahren wird allerdings weniger von Beweisen als vielehr von Vermutungen und Hypothesen getragen und wird vermutlich über kurz oder lang eingestellt werden müssen. Die Sicherheitsbehörden haben aber aufgrund dieser Konstellation ein gesteigertes Interesse an mir.

Wenige Stunden nach dem Seilwurf meldet sich nun ein weiterer Gefangener beim Sicherheitsinspektor und bringt den Gefangenen E. mit ins Spiel. E. befand sich zu der Zeit in der offenen Abteilung und hatte ab neun Uhr Tagesausgang. Dieser neue Zeihe — ein aufgrund mehrfach guter Zusammenarbeit mit der Anstaltsleitung mit dem Vertrauensposten „Mauerschänzler“ belohnter Gefangener, der aus gutem Grund räumlich getrennt von den anderen Gefangenen untergebracht ist — behaptet, er habe den E. zwei Tage vor dem Seilwurf in der Anstaltsgärtnerei mit einer Plastiktüte gesehen, aus der — welch Zufall — ein Seil herausgeguckt habe, welches genauso aussah wie das bewußte Fluchthilfeseil. Obwohl E. schon sdeshalb nicht der Seilwerfer sein kann, weil er nachweislich erst um neun Uhr die offene Abteilung verlassen hat, das Seil aber schon gegen 8 Uhr 20 hing, wird das Verfahren durchgezogen, E. als Freigänger abgelöst und alle Lockerungen gestrichen. Ich kann zwar für den Fluchtversuch — sollte er sich denn beweisen lassen — strafrechtlich nicht belangt werden, aber damit ließe sich dann eine Verschärfung meiner nicht unerheblichen Sicherungsmaßnahmen erreichen, schlimmer jedoch ist die Tatsache, daß hier ein Unschuldiger verurteilt werden soll, um das absolute Versagen des Wachpersonals zu vertuschen, denn die Wachen haben ganz offensichtlich gepennt. Bezeichnend ist, daß keiner der damals im Hof befindlichen Schließer als Zeuge geladen wurde. Wir werden zwar durch Zeugenaussagen die Darstellung der Staatsanwaltschaft aushebeln können, aber die wollen offensichtlich um jeden Preis verurteilen. Öffentlichkeit ist daher wichtig, um zu verhindern, daß das Urteil quasi unter der Hand ausgekungelt wird. Außerdem ist es eine wunderschöne Gelegenheit, um die Justiz in ihrer ganzen Armseligheit darzustellen, denn so ein Vorfall in Baden-Württembergs sicherstem Knast ist ein Armutszeugnis für „Sicherheit und Ordnung“. Die Anstalt hat kein Interesse an Öffentlichkeit (es stand auch nichts in der Zeitung!) — wir dagegen umso mehr! R. E., JVA Bruchsal