Ostfriesisches Hoch

■ Der Film »Schnaps im Wasserkessel« des DFFB-Absolventen Hans-Erich Viet in der Filmbühne am Steinplatz und im fsk

In Ostfriesland ist es am besten...«, stimmt eine alte Frau auf der Mundharmonika die heimliche Nationalhymne der Ostfriesen an. Allein neben der Fensterbank sitzend, den Blick zum entlegenen Gehöft des Nachbarn, tauchen die Erinnerungen in schöne und schwere Zeiten eines langen Lebens ein, das eigentlich nur an Arbeit reich war. In der Jugend mußte man beim reichen Polderbauern schuften und die wenigen Jahre Volksschule ließen die Träume nicht in den Himmel wachsen. Frühzeitig schon ging es in die Ehe, freilich ohne Aussicht auf eine eigene Bleibe. Im Alter schließlich durfte man sich glücklich schätzen, endlich ein bescheidenes Anwesen erwerben zu können.

Irgendwann in den vierziger Jahren soll es sich zugetragen haben, daß einmal »bessere« Herren aus der Stadt ankamen, um die ahnungslosen Landarbeiter bei der Einbringung der Ernte mit damals schon archaischen Gerätschaften abzufilmen. Diejenigen, die den Film damals drehten, gerieten mit den Jahren in Vergessenheit. Nicht aber der Gratis-Schnaps aus dem Wasserkessel, der den Statisten vor laufender Kamera ordentlich einheizte. Hans- Erich Viet, gebürtiger Ostfriese, Jahrgang 1953, begab sich mit dem nach vier Jahrzehnten wieder aufgestöberten Hobby-Film — Titel: »Rapsdreschen im 19.Jahrhundert« — auf Spurensuche in das Land seiner Vorväter. Er wird zum Ausgangspunkt sehr persönlicher Begegnungen mit Land und Leuten, deren Geschichte und Geschichten sich nach und nach zu einer überaus lebendigen Sozialhistorie der Region ergänzen und zusammenfügen. Die filmische Annäherung an eine Heimat, die nur so im Gedächtnis fortlebt.

An den Anfang setzt Viet eine schelmische Legende: Vor Zeiten habe Gottvater eine verheerende Sturmflut über das dem unmäßigen Alkoholkonsum verfallene Völkchen der Ostfriesen gesandt, die daraufhin zur Gottesfurcht zurückkehrten — doch nicht, ohne ihre Deiche immer höher zu bauen. Sicherheitshalber, denn vom verteufelten Schnaps konnten sie bis heutigentags trotz allem nicht lassen. Auf diese Weise — so wird erzählt — soll einst auch Viets Großvater in die Geschichte jenes historischen Amateurfilms eingegangen sein, als er volltrunken vom Fahrrad in die Fluten stürzte.

Viet ist seinen schlitzohrigen Geschichtenerzählern, die die oft genug gar nicht gute alte Zeit mit trockenem Humor überstanden, ein guter Zuhörer. Mit gebührendem Respekt tritt er hinter die »Originale« zurück, hält die Kamera bewußt auf gehörige Distanz. Der wunderbar unprätentiöse Film macht alles in allem so wenig Aufhebens von sich wie seine (nicht-) alltäglichen Helden. Das, was sie zu sagen haben, spricht für sich, zumal sie es so sagen, wie es gemeint ist: in urfriesischem Platt. Kein Idyll auf der Scholle, eher ein unsentimentaler Rückblick auf ein entbehrungsreiches und letztlich doch erfülltes Leben, von dem sich die Gegenwart kaum mehr ein Bild macht. Die geschickt eingeschnittenen Archivaufnahmen sowie die wiederkehrenden bedächtigen Schwenks über flaches, nebelverhangenes Land sind ein hinreichender Kommentar zum unaufhaltsamen Prozeß der Wandlung. Landarbeiter gibt es auch in Ostfriesland schon seit langem nicht mehr. Deren Nachkommen wanderten in die wenigen Industriestandorte der Umgebung ab. Die einst hart erworbenen Höfe stehen leer oder werden von stadtmüden Touristen nach und nach aufgekauft.

Womöglich laufen in Viets ungewöhnlichem Heimatfilm die Fäden der Geschichte ein letztes Mal zur Textur einer über Generationen intakten Lebensgemeinschaft zusammen, die ihrem eigenen Rhythmus folgte. Wenn am Schluß die alte Frau noch einmal die vertraute Weise anstimmt, denkt keiner mehr an einen Ostfriesenwitz: »Nichts geht über Friesland...« Roland Rust

Schnaps im Wasserkessel. Idee, Trick, Regie: Hans-Erich Viet, Kamera: Peter van den Reek, Deutschland 1991, 16 mm, Farbe und s/w; ab 9.April in der Filmbühne am Steinplatz und im fsk sowie am 17. und 21.April im Filmkunsthaus Babylon (Mitte)