Der Seriosität verpflichtet

■ „Tagesschau“ und „Tagesthemen“: Die ARD in der taz-Nachrichtenserie (5)

Er werde sich um „Seriosität“ bemühen, erklärte Ulrich Wickert, als er die Moderation der Tagesthemen von Hans-Joachim Friedrichs übernahm. Denn es entspreche „unserem Kommunikationsgefühl in Deutschland, daß Nachrichten nicht wie Infotainment dargeboten werden“. Das nenne ich einen gelungenen Zirkelschluß. Denn was hat unser Kommunikationsgefühl in puncto Fernsehnachrichten nachhaltiger geprägt als die allabendlichen Sendungen aus Hamburg? Fast in einem Viertel aller Fernsehhaushalte weckt die Tagesschau-Fanfare gewohnheitsmäßig die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Wer nach dem respektheischenden Cis-Dur-Crescendo nicht stillsitzt, könnte Wichtiges verpassen. Kohl habe „den Wirtschaftsstandort Deutschland verteidigt“ und die Bonner Parteien ihre „Auffassungen zur Ausländerpolitik verdeutlicht“, wird uns mitgeteilt. Und ohne Rücksicht auf den Ekel des Publikums wird allen abgebrühten Polit-Typen kostbare Sendezeit eingeräumt. Der Kabinettstisch, an- und abfahrende Daimler, der Kanzler (im Erich- Heckel-Zimmer seines Amtsbungalows) sagt stets dasselbe zu den Staatsgästen: „Mach mer mal'n scheik händs.“

Das alles gehört zu unserem „Kommunikationsgefühl“. Es ist dutzendfach analysiert und kritisiert worden: Die Sprache der Tagesschau sei ebenso phrasenhaft wie die Bilder, hieß es immer wieder, ihre ritualisierte Berichterstattung ein Kotau vor den Mächtigen in Bonn. Die meistgesehene und wohl wichtigste Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens — diese Sorge steckt hinter den Kritiken — darf nicht dem hochorganisierten Machtkampf zum Opfer fallen. Das Problem ist erkannt, sicher auch bei ARD-aktuell in Hamburg: Die Glaubwürdigkeit des Nachrichtenjournalismus sollte sich keinesfalls von der Glaubwürdigkeit des politischen Systems selber abhängig machen.

Im Vergleich zu früheren Jahren sind denn auch die Beispiele der Hofberichterstattung seltener geworden. Aber zugleich herrscht wohl bei den Tagesschau-MacherInnen ein Gefühl der Chronistenpflicht vor, um es mit einem altmodischen Wort zu sagen. Und als Informationsarbeitern gelingt es ihnen oft genug, die „Realität“ einer politischen Klasse abzubilden, die sich selber entlarvt. Wenn das aktuell und mit Präzision geschieht, ist das — zumal im CDU- Staat — schon eine ganze Menge. Die altgedienten Luegs können sich da an ihren weiblichen Kolleginnen, allen voran Renate Bütow, ein Beispiel nehmen. Man muß es ja nicht immer mit kindlicher Schadenfreude ausrufen, daß der Kanzler nackt ist. Wir sehen es doch alle. Igitt!

Und wer wissen will, warum das so ist, kann es mit Heinrich Böll halten: „Um halb elf sehe ich die Tagesthemen. Da bin ich scharf drauf.“ Gewiß, die Hetztiraden von Heinz- Klaus Mertes haben nichts mit politischem Journalismus zu tun; soll er seine abstehenden Ohren doch woanders kompensieren. Und die devote Süffisanz, mit der Robert Hetkämper sich an Engholm ranschmeißt, ist hochnotpeinlich. Jedenfalls steht Hetkämpers Konfirmationsanzug in krassem Gegensatz zu seinen sprachlichen Fähigkeiten: „Da machen die Wahlleiter ungeheure Differenzen“, sagt er und meint wohl: Differenzierungen. Und dann stellt er „eine ganz letzte Frage“ — ach, würde er es doch tun!

An guten Tagen jedoch kann man in den Tagesthemen journalistische Highlights erleben, die in der Kürze der Tagesschau-Sendezeit oft nur angedeutet werden. Dazu gehörte etwa die Sendung vom vergangenen Dienstag: In einem Beitrag von Christoph M. Föhder ging es um versteckte Mängel im Atomkraftwerk Würgassen. Konkret legte er technische und argumentative Schwachstellen bloß, ein nervöses Statement von Umweltminister Töpfer rückte Föhder nüchtern zurecht: „Das ist falsch.“ Anschließend zeigte die Redaktion, was sich aus dem riesigen (und oft zu Recht gescholtenen) ARD-Apparat herausholen läßt. In zwei Beiträgen aus Moskau, einer kurzen Live-Schaltung in die russische Hauptstadt und einem Kommentar von Nikolaus Bender, wurden die Politik Boris Jelzins und der Streit um die Schwarzmeerflotte so umfassend ausgebreitet, wie man es von einer Nachrichtensendung nur erwarten kann. Die Auslandsberichterstattung ist die Trumpfkarte von ARD-aktuell. Korrespondenten wie Gerd Ruge, Dierk-Ludwig Schaaf, Wolfgang Klein und Peter Dudzik gelingt es, journalistische Selbstverständlichkeiten zu pflegen, die in anderen Programmen bereits ausgestorben sind: Sie machen Sachverhalte verständlich, indem sie Menschen und Bilder reden lassen, „kleine“ Menschen und ruhige Bilder. Und darauf lassen sie sich inhaltlich ein, „texten“ nicht, sondern berichten. Und sogar dann, wenn Klaus Bednarz nur eine Urlaubsvertretung in Moskau wahrnimmt, hat die ARD jemanden dort, der die Sprache der Leute spricht.

Daß Ulrich Wickert zwischendurch immer wieder seine Seriosität unter Beweis stellen muß, läßt sich so beinahe verkraften. Vielleicht findet sich ja in der Hamburger Redaktion irgendjemand, der ihm vorübergehend Büchmanns Geflügelte Worte aus dem Schreibtisch klaut. Dann hätten wir davor mal Ruhe. Achim Baum