KOMMENTAR: Politik im Ständestaat
■ Die russische Legislative ringt um ihr Überleben
Täglich senden die Abgeordneten des russischen Volksdeputiertenkongresses Schockwellen in alle Welt. Werden sie dem Schicksal Jelzins und seiner Mannschaft den Garaus machen? Rußland wieder zurück ins kommunistische Mittelalter katapultieren? Der Kongreß tanzt, aber nicht wie damals in Wien, um Europa wieder in die Restauration zu führen. Er tanzt im Kreis herum, weil es immer noch besser ist, als auf der Stelle zu treten. Denn diesmal sind Kameras dabei. Das höchste gesetzgebende Organ Rußlands kämpft um seine Würde, und um sein Überleben — wenigstens bis 1995, dem Ende der Mandatsperiode. Um viel mehr geht es nicht.
Die Diskussionen haben gezeigt: eine Alternative zur jetzigen Regierungspolitik kann die konservative und orthodoxe Opposition nicht anbieten. Ihr fehlen die Führungsfiguren, und sie will es anscheinend auch gar nicht. Berechtigte Kritik, die in jeder parlamentarischen Demokratie zum Grundvokabular der Legislative gehört, gerinnt in den Mündern der alten Garde zur Lächerlichkeit. Es geht nicht, wie vielfach gefordert, um eine Erweiterung der Kompetenzen, um Kontrollfunktionen des Parlamentes gegenüber der Exekutive. Und eigentlich haben sie auch gar nichts gegen die Ämterhäufung Jelzins einzuwenden, der in seiner Person die Posten des Präsidenten, Premiers und Verteidigungsministers vereinigt. Wenn nicht die alten Apparatschiks, wer wüßte es dann besser, wie sich Politik in Rußland konsequent umsetzen ließe!
Es ist auffällig, daß dem Trommelwirbel vom Vorabend des Kongresses kein Paukenschlag folgt. Wäre er in seinem Vorhaben einig und entschlossen, dürfte es dem Volkskongreß, der sich zu drei Vierteln aus alten Betonköpfen zusammensetzt, ein leichtes sein, die Regierung auszuhebeln. So beläßt er es beim Theaterdonner und geht auf jede taktische Konzession Jelzins ein. Eine Zusage des Präsidenten, in drei Monaten einen neuen Premier zu ernennen, bedeutet im heutigen Rußland nichts. Was wird in drei Monaten sein? Das wissen auch die Delegierten, sie wollen es nur nicht wahrhaben. Denn sie fürchten um ihre Mandate. Das unausgeglichene Abstimmungsverhalten verdeutlicht eines: Jeder hat seine eigenen Interessen im Visier und könnte sich auf die eine oder andere Weise auch mit dieser Regierung anfreunden — wenn man ihn angemessen berücksichtigt, versteht sich. Das Platzen der Sprechblasen ist wenig mehr als der geräuschvolle Untergang dieser politischen Klasse. Klaus-Helge Donath, Moskau
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