Küsse sind tabu!

■ Indische FilmemacherInnen im Gespräch / Kino zwischen Tradition und Klischee

Gefeierte Filmstars waren vor einigen Tagen in Bremen zu Besuch. Aber keine Autogrammsammlerin stand vor dem Hotel: Die Kinogrößen waren aus Indien, und obwohl dieses Land in den letzten Jahren als Drehort für westliche Großproduktionen neu endeckt wurde, sind Eigenprduktionen aus der zweitgrößten Filmnation der Erde bei uns kaum bekannt. Eine der populärsten Schauspielerin Indiens, Sharmila Tagore, die in Filmen von Satyarjit Ray debutierte, ist vielleicht noch aus dem amerikanischen Spielfilm „Mississippi Masala“ bekannt, aber von der Tänzerin und bengalische Filmschauspielerin Mamata Shankar oder dem Regisseur Basu Chatterji ist in Deutschland kaum ein Film zu sehen gewesen. Auch unter den sechs indischen Filmen, die zur Zeit im Rahmen der Indienfestspiele vom Kommunalkino gezeigt werden, ist keiner, an dem sie mitgearbeitet haben. Aber in Verbindung mit dieser Reihe wurden diese sehr stattlichen RepräsentantInnen des indischen Kinos auf die Reise geschickt. Bei ihrem Stop in Bremen beantworteten sie einige Fragen.

taz: Was unterscheidet indische und westliche Filme?

Basu Chatterji: In indischen Filmen stehen sehr oft Religion, Traditionen und die Familie im Mittelpunkt. Sie folgen einer anderen Dramaturgie, in der Lieder, Tänze und emotionale Szenen eine wichtige Rolle spielen. Gewalt wird im Vergleich zu amerikanischen Filmen nur sehr gemäßigt gezeigt, und im indischen Kino sind Küsse tabu. Wir halten eher am Überlieferten fest, und das in jeder Hinsicht sehr offene westliche Kino bleibt uns fremd.“

Kommt deshalb der Hollywoodfilm in Indien nicht so an wie sonst in der dritten Welt?

Basu Chatterji: Die Sprachbarrieren sind in Indien sehr groß, nur Filme in Hindi können von der großen Mehrheit verstanden werden. Aber viele Filme aus Bombay sind Kopien von amerikanische Erfolgen. So gibt es indische Mafiafilme; Bombay wird auch Bollywood genannt. Das kommerzielle Kino ist in Indien sehr farbenfroh, aber hier wird fast nur das indische Kunstkino präsentiert.

Würde man hier nicht mehr über Indien erfahren, wenn man die kitschigen, hemmungslos übertriebenen Publikumsrenner zeigen würde?

Basu Chatterji: Unsere kommerziellen Filme sind wie Schlaftabletten, aber im Grunde sind sie tatsächlich repräsentativer für unser Land als die anspruchsvollen Filme. Außerdem werden leider immer weniger seriöse Produktionen realisiert, denn Video und Fernsehen haben dem Filmkunsttheater fast vollständig den Garaus gemacht.

Shermila Tagore: Die indische Massenunterhaltung besteht zum großen Teil aus sehr groben Melodramen, die für ein Publikum mit recht niedrigem Intelligenzquotienten gemacht sind. Das Konzept der Frauen ist zum Beispiel sehr festgelegt: Sie müssen zugleich sinnlich und unschuldig sein, singen und tanzen.

Matama Shankar: Auch wenn sie eine arme Hungernde spielt, wird sie immer schön aussehen, makellos geschminkt sein und in jeder Szene einen anderen Sari tragen.

Wie reagiert das Publikum auf die Filme, die im Rahmen des Indienfestivals gezeigt werden?

Matama Shankar: Für mich ist es sehr merkwürdig, daß die meisten westlichen Zuschauer ein sehr festgefügtes Bild von Indien haben. All die Filme, in denen ein armes, rückständiges Landleben gezeigt wird, passen gut in dieses Klischee. Aber wenn das modernere Indien mit großstädtischem Leben, Autos und großen Bungalows gezeigt wird, haben mir viele Zuschauer gesagt, daß wäre ja gar nicht das richtige Indien. Für sie ist nur das traditionelle Indien real.

Sharmila Tagore: Aber die wirklich guten Filme haben auch immer eine universelle Bedeutung. Auf Chaplins oder Kurosawas Filme reagiert das Publikum überall gleich. Da geht es um Gier, Hunger, Lust oder Sehnsucht, und diese Geschichten werden in Bengali, New York oder Berlin verstanden.

Gespräch und Übersetzung:

Wilfried Hippen