Gefahren oder Kinder abschaffen?

Gefahren oder Kinder abschaffen?

Wir kennen den Mechanismus: Zuerst zum Schutz der Menschen und der Umwelt sich wortgewaltig einsetzen, und wenn es zum Schwur kommt, dann wird alles zurückgenommen, was in Gesetzen, Verordnungen oder Richtlinien vorher festgelegt worden war.

So spielte das Strahlenschutzgesetz nach Tschernobyl keine Rolle mehr, wurden die Richtwerte für Dioxine ausgehebelt, als hohe Bodenkonzentrationen in Nordrhein-Westfalen gefunden wurden und sollten die Asbestleitlinien in Innenräumen weggewischt werden, als in über einem Dutzend Schulen in Berlin Asbest nachgewiesen wurde.

Das aktuellste Beispiel für diese inzwischen fast gesetzmäßig ablaufenden Mechanismen ist die Berliner Liste für die Beurteilung von schadstoffbelasteten Bodenflächen. Sie wurde plötzlich ausgesetzt, als auf Kinderspielplätzen bis zu achtzigfache Richtwertüberschreitungen des krebserzeugenden und erbgutschädigenden Schadstoffes polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (kurz PAK genannt) in den obersten Bodenschichten gefunden wurden.

Die Berliner Liste legt einen »Eingreifwert« für den »sensiblen Bereich« wie Kinderspielplätze fest. Und da bei 50 untersuchten Spielplätzen zwei Drittel erhöhte Werte aufwiesen, wurde von den Senatsverwaltungen für Gesundheit und Umweltschutz die Bremse gezogen. Die Eingreifwerte wurden in Vorsorge- und schließlich in Sanierungswerte heruntergestuft. Die Senatsverwaltung distanzierte sich nun von der Berliner Liste, die sie selbst erst 1990 im Amtsblatt veröffentlicht hat.

Und jetzt beginnt das politische Tauziehen, wie wir es von Asbest und Dioxin her kennen. Die meisten Politiker enttarnen sich als ökologische Sonntagsredner. Angesichts einer Kostenlawine zur Sanierung der Plätze wird der Kinderschutz hintenangestellt. Die Senatsverwaltung betont, daß keine akute Gesundheitsgefahr vorliege. Daher gäbe es auch keinen Anlaß, kurzfristig etwas zu unternehmen, um die Kinder von dem Krebsgift fernzuhalten. Sie verschweigt aber die akute Gefahr, daß kleine Kinder jetzt vergifteten Boden in den Mund nehmen und essen und einige von ihnen deshalb später — das heißt in zehn oder zwanzig Jahren — an Krebs erkranken.

Begierig greifen etwa in dem Bezirk Tiergarten Mitglieder des Bezirksamtes nach den Argumenten des Senats und verhindern die Sperrung der Spielplätze. Dagegen steht ein Gutachten des renommierten Institutes für Toxikologie von Professor Wassermann in Kiel über die PAK- Belastung in Tiergarten. Es besagt, daß die Spielplätze zu schließen seien und für Maßnahmen zu sorgen ist, damit »Kinder beim Spielen unter keinen Umständen mit dem belasteten Boden in Kontakt kommen können«.

Noch vor zwei Monaten ließ die Senatsumweltverwaltung einen Spielplatz in Tiergarten sperren. Inzwischen hat der Bezirk auf Vorschlag der Senatsverwaltung diesen Platz wieder geöffnet.

In gleicher Weise wurde bei den ersten Funden von Asbest in Schulen verfahren. In Wilmersdorf wurde damals auf Rat eines bekannten Asbestexperten des Bundesgesundheitsamtes eine Schule geschlossen und nach 14 Tagen wieder geöffnet. Denn zwischenzeitlich hatte man festgestellt, daß der Befund in Wilmersdorf kein Einzelfall war. Danach ging ein fast endloses Gezerre um die Schule los. Zuletzt konnten sich die Betroffenen doch durchsetzen. Nach rund einem Jahr wurde die Schule geschlossen.

Wie es in Tiergarten ausgehen wird, ist schwer vorauszusagen. Ich kann nur hoffen, daß die Eltern der betroffenen Kinder sich diese Gefährdungen nicht gefallen lassen. Übrigens dort, wo das Bezirksamt politisch anders zusammengesetzt ist — nämlich im Nachbarbezirk Mitte — wurden die belasteten Plätze geschlossen.

Stellt sich die Frage, was ist uns der Schutz der Kinder wert. In Berlin, wo der Kfz-Verkehr allmächtig geworden ist — die Hauptquelle von dem Krebsgift PAK ist das Auspuffrohr — entsteht die wahnwitzige Alternative, entweder wir schaffen die Gefahren ab oder die Kinder.

Johannes Spatz ist Referatsleiter für kommunales Gesundheitswesen beim Senator für Gesundheit in Bremen und war früher Stadtrat in Berlin.

In der Rubrik Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten zu den Problemen der Stadt.