Mit Wonne gedeutelt

Verlegene Forscher, trunkene Satyrn: neueste Vermutungen über das Schweizer Gold aus keltischen Gräbern  ■ Von Heide Platen

Die kleine Gruppe der ArchäologiestudentInnen murmelt sich muffelnd durch das Gold der Helvetier. Die Ausstellung im Frankfurter Museum für Vor- und Frühgeschichte, vorher in vier Städten in der Schweiz gezeigt, findet in all ihrer glänzenden Pracht keine Gnade vor ihren Augen. „Unkultur“, „Barbarei“ und „elendes Gebuddel“ nennen sie das Ergebnis, das, finanziert vom Schweizerischen Bankverein, seit voriger Woche so viele „Aaahs“ und „Ooohs“ auslöst. Die schimmernden Funde sind auf kleinen Täfelchen erläutert. Diese Mühe ist weitgehend vergebens, das wissen die Studenten. Die Dokumentation ergibt ein nur zu deutliches Bild jener Zerstörung, die sich bis in dieses Jahrzehnt Archäologie nannte und doch oft nur schiere Gier nach Gold, Schatzgräberei und Plünderung war. Sie zeichnet das Nicht-zuordnen-Können der Dinge, das fundamentale Nichtwissen über Alltag, Religion und Bräuche der keltischen Kultur in Mitteleuropa nach. Die ausgestellten Funde lösen nicht das Rätsel um das Auftauchen und Verschwinden eines Kulturkreises, der sich 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung konsolidierte und von Osteuropa bis auf die britischen Inseln erstreckte. Herodot ortete ihn 400 Jahre vor der Zeitenwende geographisch nur sehr ungenau. Wehrhaft, heißt es, seien die Kelten der sogenannten Hallstattkultur gewesen. Das römische Heer haben sie eigenhändig besiegt und Rom zerstört. Der nachfolgenden Latène-Zeit folgte um Christi Geburt der langsame Niedergang der Kelten; dann waren sie verschwunden. Christliche Mönche verfaßten später abenteuerliche und pädagogische Berichte aus Britannien und dem fernen Irland.

Die Spekulationen der DokumentaristInnen sind in der Präsentation der Ausstellung nicht ausgewiesen. Sie verstecken sich schamhaft im prächtigen Katalog. Aus den bemühten Texten der Hinweistäfelchen wird nur immer wieder deutlich, daß eine genaue Zuordnung der Funde durch die Verwüstungen von Gräbern bei ihrer brachialen Aushebung nicht mehr möglich ist. Die aufregendsten und rätselhaftesten Exponate verdankt die Ausstellung, vielleicht ganz folgerichtig, einem Zufallsfund mit schwerem Schaufelbagger. Die Bergung der ebenso üppig wie zart ziselierten vier Halsringe und drei Armreifen von Erstfeld ist im Katalog nachgestellt. Sie fielen zwei Bauarbeitern bei Lawinenschutzarbeiten regelrecht vor die Füße, als sie einen schweren Felsbrocken bewegten. Die hohlen Reifen aus Goldblech mit ihren kunstvoll verschlungenen Figuren regen deshalb zu verstiegenen Theorien an. Die Besucher können sich am Quiz beteiligen und legen mit Wonne Spuren, die, wie jede andere, nur falsch sein können. Denn: auch die richtige Antwort kann nicht als richtig bewiesen werden. So werden die putzigen Kerlchen und Getiere, die sich da umeinander ringeln, schon im Katalog zu Leben und Tod, Sternbildern, Lebens- oder Sonnenlauf gedeutelt. Im Gästebuch notieren vor allem Frauen und interpretieren Fruchtbarkeitssymbole im Dutzend. Andere suchen den Ursprung, je nach individuellem Workshop, in Afrika. Irgendwie hat man vergessen zu notieren, daß die recht faunigen kleinen, kulleräugigen Knirpse nichts anderes sein können als sich aus Füllhörnern kräftig betrinkende Satyrn. Verschämt puritanisch ist auch die Interpretation zweier hauchdünner goldener Halbschalen aus dem Grab einer jungen Frau. Da sie als Schüsselchen unübersehbar zu fein und dünnwandig für den Hausgebrauch sind, versuchten Wissenschaftler sich darin, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen und erhielten dabei nichts anderes als einen ebenfalls völlig unnützen Gegenstand. Also, mutmaßten sie, könne es sich nur um die Vergoldung zweier identischer Schalen gehandelt haben: „Bedeckten ursprünglich einen organischen Hohlkörper unbekannter Funktion.“ Da versagt die Phantasie des Forschers. Daß die beiden sanft gerundeten Schälchen von 13 Zentimeter Durchmesser mit eingeritzten Kreisen, Dreiecken und Halbmonden ebenso Kleidungsbestandteil gewesen sein könnten wie die an gleicher Stelle 1848 gefundene Goldfolie, so ungefähr im Brustbereich, ist öffentlich bisher nicht einmal erwogen worden. Unübersehbar jedenfalls ist, daß sich die Kelten bei der Gestaltung ihres Schmucks und ihrer Bronzegefäße von den Hochkulturen des Mittelmeerraumes beeinflussen ließen und es — vielleicht durch den förderlichen Einfluß aus dem Südosten — zu eigenständiger Blüte brachten. Und sie waren anpassungsfähig. Aus römischen Quellen, in denen sich Dichtung und Lüge oft genug mischen, werden die Helvetier als „reich an Gold und friedlich“ beschrieben. Ihrerseits assimilierten sie sich schnell: kleine Statuetten römischer Gottheiten jedenfalls lassen das vermuten. Die Römer allerdings notierten wenig über die Götterwelt der Kelten, die ihnen vielleicht zu kompliziert war. Die schriftlichen Überlieferungen sind spärlich und zeugen von Desinteresse.

Mag sein, daß der Nützlichkeitsgedanke vom Blattgold-BH aus direkt in die Irre führt. Viele der Dinge, die die Helvetier aus Flittergold fertigten, sind so, wie sie jetzt ausgestellt sind, im „Alltag“ nicht zu benutzen. Die riesigen goldenen Halsreifen nehmen sich wie steife, vorstehende Krägen aus. Die Innenränder der über Hohlformen geschlagenen Goldbleche sind umgebogen und spitz. Die Dünnwandigkeit macht sie zu einer überaus empfindlichen Zier. Die Faszination des Goldes lag für die Menschen vermutlich nicht nur in Seltenheit und Glanz, sondern in der leicht durch Hammerschläge zu bearbeitenden, geschmeidigen Konsistenz des ansonsten recht nutzlosen Metalls. Vielleicht entstanden manche der unpraktischen, fragilen Dinge nicht, wie hier vermutet, nur als Totenzier, sondern einfach um ihrer selbst willen.

Zwei Fragmente riesiger Reifen haben die Forscher vorerst zum Schmuck der Götter erhoben und keltischen Holzfiguren um den Hals gehängt. Die dazugehörige Opferzeremonie ist, wie andere Lebenssituationen, en miniature nachgestellt. Die Zwischenstücke der Reifen erinnern an die gedrechselten Enden hölzerner Möbelknäufe, die halbrunden Ringe an robuste Griffe. Der Fundort ist zweifelhaft. Vermutlich bargen Arbeiter sie Ende des vorigen Jahrhunderts aus dem Rhein und verkauften sie heimlich an Antiquitätenhändler.

Auch an anderer Stelle wird kräftig gerätselt. Die Tatsache, daß die meisten der wertvollen Metallfunde aus Frauengräbern stammen, regte die Autoren dazu an, darüber nachzudenken, ob die keltischen Damen es nötiger hatten als die Männer, Schmuck zu tragen, zum Beispiel als Abwehrzauber gegen die bösen Geister, für die sie als Frauen besonders anfällig waren. Jene Tote, die zu einem Bild arrangiert in ihrem Grab gefunden wurde, inbegriffen: Sie hält ein Messer in der Hand, das in dem Kopf eines jungen Schweines steckt.

Gold der Helvetier. Keltische Kostbarkeiten aus der Schweiz. Museum für Vor- und Frühgeschichte, Frankfurt. Noch bis zum 21.Juni 1992.