Belastende Indizien aus dem Stasi-Nachlaß

■ Trotz der jüngsten schweren Vorwürfe der Stasi-Akten-Behörde gegen den brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe (SPD), er habe entgegen seinen Beteuerungen umfassende Kontakte zur Stasi...

Belastende Indizien aus dem Stasi-Nachlaß Trotz der jüngsten schweren Vorwürfe der Stasi-Akten-Behörde gegen den brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe (SPD), er habe entgegen seinen Beteuerungen umfassende Kontakte zur Stasi unterhalten, sieht der ehemalige Kirchenmann keine Veranlassung, sein Amt aufzugeben. Stolpe empörte sich, der Stasi-Nachlaßverwalter Gauck habe sich die Maßstäbe des MfS zu sehr zu eigen gemacht.

Das Urteil der Gauck-Behörde läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In der Zusammenfassung ihres 61seitigen Berichtes, der am Freitag dem Stolpe-Untersuchungsausschuß in Potsdam übergeben wurde, urteilt die Behörde: Die „aufgefundenen Unterlagen zum Einsatz des IMB 'Sekretär' lassen den Schluß zu, daß er nach den Maßstäben des MfS über den Zeitraum von ca. 20 Jahren ein wichtiger IM im Bereich der Evangelischen Kirchen der DDR war“.

Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe gerät nach den ausführlichen Recherchen der Stasi- Nachlaßverwalter zunehmend unter Druck. Für Stolpe besonders brisant: Die Gauck-Behörde stellt sich gegen seine Aussage, wonach er — ohne sein Wissen — von Mielkes Offizieren lediglich „abgeschöpft“ und nur zum Schein als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) geführt worden sei. Der Bericht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen kommt zum gegenteiligen Ergebnis: „Die häufig anzutreffende Argumentation ehemaliger leitender Mitarbeiter der HA XX/4 (die für die Überwachung der Kirchen zuständige Hauptabteilung der Staatssicherheit, d.Red.), zur Erhöhung des Potentials inoffizieller Quellen wäre auch mit 'fiktiven' IM— also IM, die nur zum Schein als solche registriert waren — gearbeitet worden, hat sich aus den Unterlagen nicht bestätigt.“

Die CDU in Brandenburg forderte postwendend, Stolpe müsse bis zur detaillierten Klärung der Vorwürfe sein Amt niederlegen. Deren Generalsekretär Thomas Klein forderte auch die Parteien der Potsdamer Ampelkoalition auf, Stolpe einen vorläufigen Verzicht auf sein Amt nahezulegen. Möglicherweise wird das Bündnis wegen der Sache Stolpe aus der Ampel ausscheren: Für Günter Nooke, Fraktionschef des Bündnisses 90, gilt das Gutachten nach einer ersten Durchsicht als „schwer belastend“.

Stolpe: „abenteuerliche Geschichte“

Der Bundesvorstand der SPD hat sich — wie auch der Landesverband in Brandenburg — hingegen hinter den Parteifreund Stolpe gestellt. Die Sprecherin des Bundesvorstandes, Cornelia Sonntag, sieht auch nach der Vorlage des Berichtes „keinen Anlaß, an der Integrität Manfred Stolpes zu zweifeln“. Das Gutachten enthalte „in der Substanz nichts Neues“ — für das SPD-Mitglied Sonntag handelt es sich lediglich um „eine Zusammenstellung des verfügbaren Materials, in dem jedoch keinerlei Dokument zu finden ist, das Manfred Stolpe in irgendeiner Weise belasten könnte“.

Stolpe selbst wies am Wochenende die neuen Vorwürfe „mit Entschiedenheit“ zurück. Die vorgelegten Unterlagen seien „die Bündelung der Dinge, die in anderer Form schon gehandelt und gewesen sind“. Es gebe „keinerlei Nachweise, keinerlei Fakten, die eine neue Qualität bedeuten“. Das Urteil der Gauck-Behörde, wonach Stolpe keineswegs als „fiktiver IM“ geführt worden ist, nannte Stolpe eine „abenteuerliche Geschichte“. Der Maßstab seiner Gespräche mit Mitarbeitern der Staatssicherheit sei „ausschließlich die Bindung an meine Kirche gewesen und nichts anderes“. An die Adresse des Bundesbeauftragten gerichtet, empörte sich Stolpe, „die Maßstäbe des Ministeriums, die Herr Gauck bei seiner Recherche benutzt, waren niemals meine Maßstäbe“.

Dem brandenburgischen Ministerpräsidenten dürfte es allerdings schwerfallen, die Recherchen der Gauck-Behörde zu widerlegen. Zwar wurden die Personalakten der Stasi über ihre früheren Mitarbeiter nach der Wende massenhaft vernichtet. Gefunden wurden aber beispielsweise im Fall Stolpe „Jahresarbeitspläne“ der Hauptabteilung XX/4 aus den Jahren 1979 und 1980, in denen die besondere Bedeutung des IM „Sekretär“ dadurch unterstrichen wurde, „daß über diesen die konspirative Beschaffung der Materialien der KKL (Konferenz der Kirchenleitungen der DDR, d. Red.), eine sofortige Berichterstattung bei politisch relevanten Themen und die operative Einflußnahme bei Entscheidungen erfolgen sollen“.

Diese Aufgabenstellung, urteilt die Gauck-Behörde, hätte „jeglicher Grundlage entbehrt, wenn es sich um einen sogenannten 'fiktiven‘ IM gehandelt hätte“. Erdrückendes Indiz ist weiterhin der Bericht eines Führungsoffiziers über ein Treffen mit seinem IM 'Sekretär‘. Mielkes Mitarbeiter hielt am 7. September 1979 schriftlich fest: „Der IM bat darum, weitere Treffvereinbarungen nach Möglichkeit unter Ausschaltung seines Sekretariats vorzunehmen. Er schlug vor, notwendige telefonische Verbindungsaufnahmen abends zwischen 20.00 und 21.00 Uhr über seinen Privatanschluß in Potsdam vorzunehmen.“

Der Streit um die Wertung des Gutachtens ist am Wochenende voll entbrannt. Potsdams Innenminister Alwin Ziel (SPD) nannte es „zutiefst ungerecht“, daß sich Stolpe heute dafür rechtfertigen müsse, daß er Bedrängten im SED-Regime geholfen hat. Eine „Ungeheuerlichkeit“ sei, nun die Maßstäbe des MfS an die Menschen der ehemaligen DDR anzulegen. Wer wie Stolpe Ausreisewilligen, Wehrdienstverweigerern oder Friedensgruppen helfen wollte, hätte mit allen Seiten, zwangsläufig also auch mit dem MfS reden müssen. Anderenfalls „wäre Tausenden nicht geholfen worden“.

Der frühere Vorsitzende des evangelischen Kirchenbundes der DDR, Werner Leich, erklärte in der jüngsten Ausgabe des Spiegel: „Der Kanal ist verstopft, der Kanalarbeiter steigt runter, bringt alles in Ordnung, alle freuen sich. Aber als er dann oben unter den anderen steht, sagen die anderen: Du stinkst.“

CDU sieht Stolpe „klar widerlegt“

Die CDU in Brandenburg hält dagegen den Versuch Stolpes und der SPD, die neuen schweren Belastungen als „in der Substanz nicht neu“ hinzustellen, für ein „Ablenkungsmanöver“. Für den CDU-Mann Klein gilt: Die Behauptung, „Sekretär“ sei ein „fiktiver IM“ gewesen, ist „klar widerlegt“.

Auch der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johannes Nitsch, forderte den Rücktritt Stolpes für den Fall, daß sich die Vorwürfe bewahrheiten sollten. „Wenn stimmt, was die Gauck-Behörde jetzt gegen Herrn Stolpe vorbringt, dann sind die Vorwürfe so erdrückend, daß er nicht mehr im Amt bleiben kann.“ Ihn schmerze besonders, „daß wir mit Stolpe eine der letzten Persönlichkeiten verlören, die unter dem DDR- Regime als aufrecht galten. Ich wünsche mir, daß die Vorwürfe nicht stimmen.“

Aus den aufgefundenen Unterlagen ergibt sich nach den Ausführungen der Gauck-Behörde, daß der IM „Sekretär“ „im Jahre 1964 im Alter von 28 Jahren als IM-Vorlauf in der BV (Bezirksverwaltung der Stasi, d. Red.) Potsdam unter der Nummer IV/1192/64 registriert“ wurde. Unter der gleichen Registriernummer sei dieser Vorlauf am 20.5.1970 an die zuständige Hauptabteilung XX/4 in der Stasi-Zentrale in Berlin übergeben worden. Anhand verbliebener Aufzeichnungen könne davon ausgegangen werden, „daß das MfS kurze Zeit danach den IM-Vorlauf abgeschlossen und die Werbung des IM vollzogen hat“.

Bemerkenswert sind, so die abschließende Beurteilung der Gauck- Behörde,

—„die ungewöhnlich engen Zeiträume zwischen Ereignis und Information des MfS, unter Berufung auf die Guelle IM 'Sekretär';

—der hohe Prozentsatz der auf der Basis der IM-Berichte weitergeleiteten Informationen an Führungsgremien des MfS und der SED;

—die Treffen in einer konspirativen Wohnung, ein Tatbestand, der aus Sicht des MfS die Verläßlichkeit der Verbindung dokumentiert und zur Sicherung der Konspiration wichtig war.“ Wolfgang Gast