Kleine und große Fluchten

■ Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli las in der Humboldt-Universität aus ihren Romanen und Gedichten

Sozialismus oder Tod!« Am Eingangstor zur Humboldt- Universität wirbt in großen Lettern Fidel Castros Losung für Solidarität mit Kuba. Drinnen, im repräsentativen Ambiente des Senatssaals, schlägt eine Stimme aus Lateinamerika weniger martialische Töne an: Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli, in Deutschland vor allem durch den Erfolg ihres Romans Bewohnte Frau bekannt, liest unter den strengen Blicken der Gebrüder Humboldt aus ihren Romanen und dem im August auf deutsch erschienenen Band Erotische Gedichte.

Der Saal ist überfüllt. Lang scheint es an diesem Sonntag abend her, daß Gioconda Bellis Bewohnte Frau vor vier Jahren vom engagierten Peter Hammer Verlag herausgegeben wurde — noch bevor das Buch in seiner Originalsprache erschienen war. Nicht zuletzt der »Preis für das beste politische Buch«, vom Verband des deutschen Buchhandels vergeben, half dann zügig nach, daß auch ein Verlag ihres Heimatlandes Nicaragua die nötigen Kapazitäten freimachte. Der Roman erzählt von den Erfahrungen der Lavinia, einer modernen Frau, die sich dem Kampf gegen die Somoza-Dikatur anschließt, und verschränkt sie mit der Weltsicht einer mythischen Frauengestalt aus dem indianischen Widerstand gegen die spanische Eroberung. Seit Die bewohnte Frau ein internationaler Kassenschlager wurde — allein auf deutsch bis heute eine Gesamtauflage von 260.000 — hat die 44jährige mit Titeln wie »die sandinistische Isabel Allende« oder gar »die nicaraguanische Garcia Márquez« leben müssen.

Gioconda Bellis Hauptpersonen sind Frauen — starke, sinnliche, eigenwillige Frauen. Aus ihrem zweiten Roman Tochter des Vulkans liest sie zwei Szenen, die von den Ausbrüchen der Protagonistin Sofia aus einer von Männern beherrschten Welt handeln. Zunächst die kleine Flucht, als sie kurz vor der Kirche dem Pferd die Sporen gibt, ihren Bräutigam und die Hochzeitsgesellschaft sitzen und auf das verdammte Zigeunerblut in ihren Adern fluchen läßt, um sich nach einer staubigen Eskapade doch noch vor dem Traualtar einzufinden. Dann die große Flucht: Sofia verläßt ihren Ehemann und rettet sich in die grünen Hänge des Vulkans Mombacho. Die wirken zwar bedrohlich, versprechen dennoch mehr Schutz als die Menschen in der Ebene.

Das Publikum hört dankbar zu. Wo Gioconda Belli in Nicaragua erst ihren Platz, ihre Themen und ihre Literatur erkämpfen mußte, hat sie in Deutschland, so scheint es, ein Heimspiel. In Nicaragua mögen die Wiederentdeckung der indianischen Mythen, die offene Erotik und das selbstbewußte Aufbegehren der Frauen provokant und anstößig wirken, hierzulande bestätigen die schön geschriebenen Geschichten aus einer (nicht nur geographisch) fernen Welt, die Harmonie der erotischen Poesie Bellis eher die Selbstsicht und Sehnsüchte der ZuhörerInnen. Das deutsche Publikum wird an diesem Abend nicht gefordert oder in Frage gestellt.

Bis die Lesung beendet ist und das Saalmikrophon angeschaltet wird. Während der Rassismus in Deutschland einen neuen Höhepunkt erreiche, seien »die fünfhundert Jahre der Conquista Amerikas hier Mode geworden«, läßt eine in Berlin lebende Lateinamerikanerin ihrer Wut in einem heftigen Beitrag Luft. »Und leider tragen auch die lateinamerikanischen Autoren dazu bei!« Es folgt ein Querschlag gegen »die Frauen hier, die die Afrikanerinnen, Asiatinnen und Lateinamerikanerinnen für minderwertig und weniger emanzipiert halten — gerade auch von der feministischen Bewegung hier!«

Doch die feministisch engagierten Frauen, obgleich zweifelsohne zahlreich vertreten im Saal, lassen sich auch durch die direkte Attacke nicht aus der Reserve locken oder zu Erwiderungen hinreißen. Es bleibt Gioconda Belli überlassen, die Konfrontation in ihrem Schlußwort aufzufangen, den Glauben an die Veränderbarkeit der Welt zu beschwören und alle gemeinsam zu einer »Bewegung der Erneuerung, mit Liebe, Wut und Entschlossenheit« aufzurufen. Anschließend signierte sie geduldig die vielen Bücher, die ihr aufs Podium gereicht wurden. Bert Hoffmann