Drei Stunden Hauptgericht ohne Beilage

■ Belcanto von Bellini mit Lucia Alberti und Fabio Luisi in der Deutschen Oper

Auf Oper muß man sich einlassen. Das weiß, wer je einem singenden Hausdiener oder Friseur drei Stunden lang bei den Hochzeitsvorbereitungen zugesehen oder gar vier Abende lang den Untergang germanischer Götter in Musik genossen hat. Noch phantasiefordernder aber wird die geheimbündlerische Liaison zwischen Publikum und Bühne, wenn die Oper sich des Schmucks ihres Operseins entledigt und ersatzweise das Beiwort konzertant anlegt. Dann steht da zum Beispiel ein korrekt in Abendgarderobe gekleideter Sechziger, Lesebrille auf und Noten vor der Nase, vor dem Orchester und beklagt sich, daß seine Gattin ihm lästig, weil zu alt sei. Diese ist vergleichsweise jung wie die Morgenröte, sieht aus wie die Loren und ist stimmgewaltig wie die Callas: Starissima Lucia Alberti.

Sie sang die Titelrolle in Vincenzo Bellinis Beatrice di Tenda am Mittwoch abend in der Deutschen Oper. Ihrem Gesang fehlte nur ein wenig Sanftheit des Pianos, ein wenig Lyrismus, um vollkommen zu sein. Die dramatischen Kraftanstrengungen, lockeren Koloraturen, raffinierten Steigerungen wohlberechneter Zornesausbruche, elegischen Gebete: sie meisterte alles in grandioser, atemberaubender Manier, was der späte Meister des Belcanto seiner Primadonna in die Glanzpartie geschrieben hatte. Der mitkomponierte Beifall durchtoste prompt den Saal, sobald sie ihre intelligent und messerscharf anvisierten Spitzentöne heraus hatte.

Der jung gestorbene Sizilianer Bellini (1801-1835), als schöner Filmheld Vincenzo geheißen, konnte mit seiner Beatrice nicht ganz an die vorangegangenen Erfolge anknüpfen: sein Genre, die Belcanto-Oper, befand sich im Umbruch. Statt der ziselierten Sublimation von Gefühlen waren im 19. Jahrhundert die wühlenden Leidenschaften pur gefragt. Und gerade auch Bellini suchte mit diesem Stück nach neuen Wegen. Überbordender Schöngesang mußte nun große Gefühle und dramatische Verwicklungen tragen: der Fiesling Filippo aus dem Hause Visconti (die italienische Bariton-Legende Piero Cappuccilli mit noch immer ehrfurchtgebietendem Wohlklang) ist seiner Gattin überdrüssig und verstrickt sie mit Hilfe seiner eifersüchtigen neuen Geliebten Agnes (am Schluß groß in Form: Camillie Capasso) in einen Hochverratsprozeß, läßt sie und ihren Freund (lyrisches Tenorleuchten von Martin Thompson) foltern und schließlich — unschuldig natürlich — hinrichten. Der Chor verströmt sich in Anklage, sodann in Mitgefühl, kräftig angeheizt durch den fabelhaften Dirigenten. Fabio Luisi arbeitet von Hacke bis Haarwurzel angespannt wie ein ehrgeiziger Klassenprimus vor der Klausur. Beseligenden Melodienzauber modellierte er kraft Kalküls. Wenn sich alles schäumend überschlägt, schlägt er den Takt. Gilt es jedoch, dramatische Übergänge zu modellieren, die wenigen interessanten Orchesterfarben herauszupräparieren, angerauhte Momente in den hemmungslosen Melodienfluß zu kratzen, krümmt sich der Körper, faßt er kompromißlos zu. Wie gesagt: auf Oper muß man sich einlassen, auf Belcanto um so mehr. Hauptgerichte ohne Beilage sind nicht jedermanns Sache. Wer dagegen drei Stunden nichts als energiegeladenen Belcanto verträgt: Beatrice de Tenda. Irene Tüngler

Die nächsten Vorstellungen: heute und am 18. April