Alles in Ordnung — alles Kunst

■ Deutsche Erstaufführung von Philip Ridleys »Disney-Killer« in der Baracke des Deutschen Theaters

Sie haben sich redlich Mühe gegeben, aus dem Stück herauszuholen, was immer darin steckt. Schaufensterpuppen in diversen Fenstern an der Außenseite der Baracke stellen den Protagonisten Presley Stray in allen elenden Lebenslagen aus, häßliche Riesenkakerlaken über unseren Köpfen säumen den Weg in die Spielstätte, die der englische Bobby mit ostdeutschem Akzent am Eingang mit königlicher Fürsorge bewacht. Es ist Premierenabend im Deutschen Theater, und wir alle, die wir vor der Baracke an der Schumannstraße stehen, sind heute Abend in jene heruntergekommene, verlebte Gegend des Londoner East Ends gekommen, um hier einen legendären Kindermörder, den »Disney-Killer« leibhaftig zu sehen.

Eine achtlos abgestellte Mülltonne beginnt plötzlich bedrohlich zu kokeln, die Premierengäste suchen irritiert das Weite oder zumindest den Eingang in die Baracke - jemand rät zu einem Eimer Wasser. »Alles in Ordnung...« beruhigt uns DT-Intendant Thomas Langhoff, während der Barkeeper seine Premieren-Cocktails vor den Rauchschwaden in Sicherheit bringt — »Alles in Ordnung — 's is' alles Kunst!«

Nach diesem pyrotechnischen Auftakt im Freien beginnt nun das Spiel in der Baracke des Deutschen Theaters. In dem detailreich unpräzise arrangierten Bühnenbild (Donald Becker) stehen bereits zwei heruntergekommene Gestalten in einem heruntergekommenen Appartement heruntergekommen herum. Hank Williams spielt dazu den Long Gone Lonesome Blues.

Presley und Haley Stray sind zwei schokoladensüchtige Geschwister, die seit dem Tod ihrer Eltern vor nunmehr zehn Jahren die eigene Existenz nur noch notdürftig zusammenhalten. Ihr Leben ist ein starres, angsterfülltes Ritual. Schlaflosigkeit in der Nacht, Alpträume bei Tage. Die Welt als phantastischer Horror — oder zumindest als phantasievoller.

Die düstere Enklave der Wohnung — »dunkler Turm in der Ödnis« — bewahrt ihre Bewohner vor dem unheilvollen Draußen, bis gerade dort jenseits des Fensters ein Mann elend in der Gosse liegt: der Disney- Killer. Natürlich nutzt Presley den Tablettenrausch seiner Schwester zu einem verbotenen Ausflug in die Welt vor der Tür, läßt er den berufsmäßig Kakerlaken verspeisenden Schönling mit dem Supermann- Hemd eintreten in seine schokoladen- und horrorverschmierte Welt.

Der junge Engländer Philip Ridley gehört zu dieser Generation moderner Gesamtkünstler, die in ihrem bisher kurzen Leben nicht nur Bilder malen und Filme machen, sondern auch noch Geschichten erzählen und Theaterstücke schreiben. Mit seinem 1991 in London uraufgeführten Disney-Killer, einer neuen Variation der immergleichen Mischung aus unterdrücktem und abnormen Sex, aus der Perversion des Elends und der Geldgeilheit der Perversen läßt sich trefflich Ruhm ernten. Wie am vergangenen Sonntag in der Schumannstraße zu sehen war, ist ein wahrhaft theatrales Ereignis damit allerdings nicht garantiert.

Die DT-Inszenierung des Disney- Killers unter der Regie von Sewan Latchinian versucht mit allen Mitteln, dem Ridleyschen Sammelsurium aus Anspielungen und Untiefen angemessen gerecht zu werden. Überdeutlich müssen Axel Wandtke und Katrin Klein ausspielen, was immer der Text nahelegt: Da gibt es Presleys latente Homosexualität, die erotische Verklemmtheit des Disneykillers; die innere Vereinsamung der armen Haley und die versteckten Inzestgelüste der Zwillinge.

Vor allem Katrin Klein, die leider über weite Strecken des Stückes Tesafilm-gefesselt und damit inaktiv auf einem Sessel zubringen muß, erweckt die Figur der Haley auf überzeugendste Weise zum Leben. Volker Rainisch als der bis ins Artifizielle entmenschlichte Cosmo Disney wirkt dagegen von seiner zugegeben schwierigen Aufgabe etwas überfordert; sein Spiel bleibt blutärmer als nötig und läßt den Presley Axel Wandtke häufig mit Macht ins Leere agieren.

Alles in allem ist der Disney-Killer ein inhaltlich äußerst beliebiges Stück mit etlichen Längen, das letztlich so wenig zu sagen hat, daß es erstaunlich ist, wie viel die Inszenierung dem dann doch noch entlockt. Vielleicht hätte trotzdem ein geringeres Maß dieser modisch-tabubrechenden Anspielungen die größere theatrale Dichte eingebracht. Womöglich hätte man dann allerdings feststellen müssen, daß Philip Ridleys Disney-Killer außer den vielen Effekten nichts zu bieten hat. Denn trotz allem Horror, den er da gegen Ende des Stücks in Gestalt des »Mistgabel Cavaliers« (Michael Walke) auf die Bühne hievt, bleibt eben doch von der lebendig verspeisten Kakerlake bis zur brennenden Mülltonne alles oberflächliche Show — alles in Ordnung. Und das — Pardon, Herr Langhoff! — ist eben gerade keine Kunst. Klaudia Brunst