WESTDEUTSCHLAND UND NIEDERLANDE VON ERDBEBEN SCHWER ERSCHÜTTERT

Stärkstes Beben seit 1756

Aachen/Bebenland (taz) — Krach. Rums. Ruumms. Wackel. Schüttel. Schwank. Was ist denn jetzt los? Ein heran- und vorbeirollendes Geräusch wie nach einer Explosion. Putz bröckelt, Gläser klirren, eine Tasche kippt vom Stuhl, eine Grappa-Flasche überlebt den Sturz knapp. Erster Gedanke, gestern um 3Uhr 20 sekundenschnell hellwach aus dem Tiefschlaf geschreckt: Wo ist eigentlich das nächste AKW? Krieg? Ein Flieger runtergekommen? Haben wir plötzlich eine S-Bahn-Station im Keller? In Mönchengladbach vermuteten erregte Polizei-Notrufer, auf das Nato- Hauptquartier sei wohl ein Bombenanschlag verübt worden. Das Naheliegendste kam erst beim zweiten Gedanken, als alles vorbei war: Ob das wohl was ganz natürliches war? Ob sich so ein Erdbeben anfühlt?

Tut es. Im Rheinland war gestern morgen kollektives Wecken für Millionen angesagt: tektonisches Beben, unterirdischer Spannungsabbau durch Schichtenverschiebungen, sagen die Geologen. Auswirkungen waren bis Frankreich, Süddeutschland und Thüringen zu spüren. Mit einer Stärke von, sehr ungenau angegeben, 5,5 bis 6,0. Leute liefen in Bademantel und Schlafanzug auf die Straße. Manche weinten vor Schreck und Schock noch am Morgen. Am Tag dann schien es kein anderes Gesprächsthema zu geben — das stärkste Beben in Deutschland seit 1756.

Vielerorts blieb es nicht beim Schrecken. In Bonn starb eine 79jährige an Herzinfarkt — „Erdbebenschock“, sagte die Feuerwehr. Andere sind barfuß in Glasscherben ihrer Fenster getreten. Besonders schlimm war es in Heinsberg, nahe der niederländischen Grenze, wo bei Roermond das Bebenzentrum lag. In Panik liefen Menschen auf die Straße — so wie sie es wohl televisionär gelernt haben und es dem ersten Impuls nach angebracht scheint: Vor der Haustür wurden sie von herabdonnernden Kaminen und Dachziegeln verletzt, drei sogar schwer. An 150 Häusern im Kreis Heinsberg gab es Dach- und Sachschäden, einige Häuser müssen abgerissen werden. Besonders wild schwankende Hochhäuser wurden in Bonn und Dortmund vorsichtshalber geräumt.

In Holland waren Telefon-, Wasser- und vor allem Stromleitungen unterbrochen — in der Dunkelheit erlitten 15 Menschen Herzattacken, zum Glück alle ohne Todesfolge. Einige Dutzend Erschrockene wurden (meist leicht) verletzt. 50 Schornsteine kamen allein im Dorf Herkenbosch herab. Die Kirche, gerade renoviert, steht vor dem Einsturz. In beiden Ländern gibt es Schäden in vielfacher Millionenhöhe. Die Versicherungen indes zahlen nicht, betonten Sprecher sogleich — höhere Gewalt, aus der Tiefe sozusagen.

Die Technik verhielt sich unterschiedlich. Überall rasten Alarmanlagen los, weil sie das Erdbeben mit Langfingern verwechselten und die Polizei die ganze Restnacht vollbeschäftigten. Block A des AKW Biblis zeigte sich sehr sensibel und schaltete sich selbsttätig ab (Kleinbeben rund um alle AKWs weltweit, sofort und ständig!!!, d. Säzz). Block B war widerstandsfähiger und spaltete munter weiter. Ein Sprecher des AKW Mülheim-Kärlich freute sich, daß „die Anlage den Test gut überstanden“ habe. Wofür der Test sei, ließ er offen. Die schönste Panne vermeldete das Erdbebeninstitut der Uni Köln. Hier verbogen sich die Meßinstrumente, Zeiger brachen ab. Deshalb werden wir nie erfahren, wie stark das Beben wirklich war: Und der Glaube an die weltberühmte Richter-Skala ist schwer erschüttert. Bernd Müllender