Verfahrene nationale Debatte

Die europäische Visums-, Asyl- und Einwanderungspolitik nach Maastricht. Ein Plädoyer für einen Übergang zur „Normalität“ der europäischen Integration  ■ VONHERBERTWULFEKUHL

1.Visumsrecht

Mit dem Vertrag über die Europäische Union vom 10.Dezember 1991 (Maastricht) hat der Europäische Rat in Abs.1 von Artikel100c das Visumsrecht ab jetzt vergemeinschaftet: „Der Rat bestimmt auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig die dritten Länder, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedsstaaten im Besitz eines Visums sein müssen.“

Gegen den krisenbedingten Zustrom aus einem dritten Land kann der Rat jedoch auf Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit für einen Zeitraum von zunächst höchstens sechs Monaten den Visumszwang für Staatsangehörige des betreffenden Landes einführen (vgl. Paragraph100c, Abs.2).

Das wirksamste Abwehr- und Kontrollprinzip gegen unerwünschte Einreisen aus Drittstaaten ist damit nationaler Verfügung entzogen und in die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft (EG) übergegangen, dies wird weitgehend übersehen.

2.Asyl- und Einwanderungspolitik

Im Vertrag über die Europäische Union werden die Asylpolitik und die Einwanderungspolitik zu Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse erklärt und der EG-Kommission das bis dahin fehlende Initiativrecht zur Regelung dieser Politiken eingeräumt (K.9).

Der Beschluß des Rates zur Asylpolitik bedarf anfangs der Einstimmigkeit und soll bis Ende 1993 von der Kommission im Berichtswege vorbereitet werden (vgl. „Erklärung zur Asylfrage“, Ziffer2). In seiner Regierungserklärung am 13.Dezember 1991 vor dem Deutschen Bundestag hat Bundeskanzler Kohl abweichend hiervon das Datum „vor Ende 1994“ genannt. Spätere Modifizierungen zur Asylpolitik nach dem ersten, einstimmigen Beschluß sind ab 1.Janaur 1996 mit qualifizierter Mehrheit möglich (Artikel100c, Absatz3).

3.Die Haltung der EG-Kommission

Im September 1991 hat sich EG-Vizepräsident Martin Bangemann für eine gemeinsame Einwanderungspolitik in der EG ausgesprochen, die Voraussetzung und Umfang legaler Einwanderung, etwa in Form von Quoten, bestimmt. ('Frankfurter Rundschau‘ vom 13.September 1991).

Die EG-Kommission hat bereits vor Maastricht, am 9.Oktober 1991, zwei Mittelungen an den Rat beschlossen, in denen die Kommission ihre Vorstellungen über die notwendige Harmonisierung des Asyl- und Einwanderungsrechts konkretisiert; diese wurden dem Rat am 15. beziehungsweise 17.Oktober 1991 zur Vorbereitung des Europäischen Rates von Maastricht zugeleitet (Schreiben von Bangemann an van den Broek).

Für die gemeinsamen Maßnahmen im Bereich des Asylrechts hat die Kommission dem Rat folgenden Ausgangspunkt mitgeteilt: „Uneingeschränkte Wahrung der humanitären Errungenschaften auf der Grundlage der Genfer Konvention. Die Kommission ist der Ansicht, daß keine Politik oder Maßnahmen im Bereich der Einwanderung — auch im aktuellen Kontext, in dem neue Einwanderungsströme befürchtet werden —, die humanitären Errungenschaften des Schutzes der Opfer politischer Verfolgung auf der Grundlage der Genfer Konvention beeinträchtigen darf. Das gilt natürlich auch für jede Harmonisierungsmaßnahme des Asylrechts der Mitgliedsstaaten in formeller und materieller Hinsicht. Eine derartige Harmonisierung dürfte kein Alibi dafür darstellen, die humanitären Verpflichtungen einzuschränken, die sie im Rahmen der Genfer Konvention eingegangen sind.“ (AbschnittII.A.3. des Schreibens vom 15.Oktober 1991).

Für die künftige gemeinsame Einwanderungspolitik schlägt die EG- Kommission dem Rat drei Orientierungen vor:

—Einwirkung auf den

Wanderungsdruck:

Die Wanderungsbewegungen müssen in der Außenpolitik der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Langfristig gesehen sind das Streben nach einem angemessenen Umfang dieser Bewegungen sowie eine präzise Ausrichtung der Zusammenarbeit der Gemeinschaft und der Mitgliedsstaaten, zu der das Bemühen der Auswanderungsländer, insbesondere der Entwicklungsländer, um ein Gleichgewicht zwischen verfügbaren Maßnahmen und der Bevölkerungsentwicklung kommt, die sinnvollsten Vorgehensweisen.

—Bewältigung der

Wanderungsströme:

Ohne eine Entscheidung zur Frage der Aufnahmefähigkeit der Mitgliedsstaaten, die in einigen Fällen ihre Grenzen erreicht zu haben scheint, vorzugreifen, muß man auf der Grundlage einer gemeinsamen Sicht und Beurteilung der Wanderungsströme die bestehenden Einwanderungskanäle in den Griff bekommen, angesichts der Tatsache, daß derzeit sämtliche Mitgliedsstaaten einschränkende Bestimmungen erlassen haben — Bekämpfung der illegalen Einwanderung, gemeinsame Gestaltung des Asylrechts, Annäherung der Kriterien für Familienzusammenführungen und Festlegung gemeinsamer Vorschriften und Zeitverträge.

—Weiterführung der

Maßnahmen zur Integrierung der

rechtmäßig niedergelassenen

Einwanderer:

„Dadurch, daß man auf Gemeinschaftsebene tätig wird, kann auch der Erfolg der Integrationspolitiken der Mitgliedsstaaten, auf denen der Bestand von Demokratie und Solidarität beruht, begünstigt werden.“ (Schreiben vom 17.Oktober 1991).

Wie man sieht, ist die EG-Kommission entschlossen, von der Kann- Bestimmung in ArtikelK.9 des Vertrages über die Europäische Union Gebrauch zu machen. Die heikle, daraus resultierende innenpolitische Frage wird sein, ob das deutsche Ratsmitglied seine Stimme für den kommenden Vorschlag der Kommission zum Asylrecht abgeben darf, obwohl sich die europäische Regelung unterhalb von Artikel16, Abs.2, Satz2, Grundgesetz bewegen wird.

Zur Notwendigkeit der Einwanderung sagt das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln am 30.Januar 1992, nur mit einer jährlichen Zuwanderung von 300.000 Menschen für die nächsten 25 Jahre sei das derzeitige Arbeitskräfte-Niveau von knapp 41 Millionen allenfalls bis zum Jahr 2007 zu halten. Über die Aufnahme von 7,5 Millionen Zuwanderern ist also zu reden und zu beschließen, soll die heute gewohnte Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft aufrechterhalten bleiben.

4.Europarecht bricht Bundesrecht

Mit der deutschen Beteiligung am Vertragswerk der Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG, EURATOM) vermittels Artikel24, Abs.1 Grundgesetz („Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“) ist eine permanente, autonome Rechtsquelle geschaffen worden, aus der sich fortlaufend Einschränkungen des nationalen Rechts ergeben. Bildlich gesprochen öffnet Artikel24, Abs.1 Grundgesetz ein Tor, durch das ständig nationale Souveränitätsbestandteile „entweichen“ und höherrangiges Gemeinschaftsrecht „eindringt“.

Die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Gremien der Europäischen Gemeinschaften üben dort eine der auswärtigen Gewalt zuzuordnende gemeinschaftliche Funktion aus, bei der sie nicht mehr der Kompetenzstruktur des Grundgesetzes unterworfen sind. Im Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28.Februar 1986 behält sich die Bundesregierung sogar für die ausschließende Gesetzgebungsmaterie der Bundesländer vor, hiervon auf europäischer Ebene aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen abzuweichen (Artikel2, Abs.2).

Mit dem sogenannten „Solange-II-Beschluß“ hat dasBundesverfassungsgericht am 22.Oktober 1986 dem Europäischen Gerichtshof die Kontrolle der Grundrechtskonformität von Gemeinschaftsrecht überlassen:

„Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Artikel100, Abs.1 Grundgesetz sind damit unzulässig.“

Vor diesem Hintergrund zumindest ist es sehr fraglich, ob die Bestimmung in Artikel16, Abs.2, Satz2 Grundgesetz — „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ — die künftige gemeinschaftliche Regelung des Asylrechts auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention im Bereich der Bundesrepublik Deutschland aufhalten kann, wenn zum Beispiel im Deutschen Bundestag eine Zweidrittelmehrheit zur Änderung von Artikel16 GG nicht erreichbar wäre.

Der Deutsche Bundestag wird dem Vertrag über die Europäische Union insgesamt zustimmen oder ihn ablehnen müssen. Der damit verbundene endgültige Einstieg in ein gemeinschaftliches Asyl- und Einwanderungsrecht (das sich zwangsläufig auf Artikel16 GG auswirken wird, weil die elf EG-Partner sich diese Bestimmung nicht zu eigen machen werden) als Ablehnungsgrund für das gesamte Vertragswerk wird den elf Partnerstaaten schwerlich vermittelbar sein. Ebensowenig wird eine Ablehnung wegen der sehr berechtigten Kritik am wachsenden Demokratiedefizit in der Europäischen Union durch die mangelhaften Kompetenzen für das Europäische Parlament auf Verständnis stoßen (das allerdings bei Visums-, Asyl- und Einwanderungsregelungen vorher angehört werden muß).

Man könnte geneigt sein, auf eine ausdrückliche Änderung von Artikel16, Abs.2, Satz2 GG ganz zu verzichten, wenn höherwertiges Gemeinschaftsrecht gesetzt wird, das in die nationale Praxis umzusetzen ist. Dies wäre eine Analogie zu den obsoleten Bestimmungen in den Verfassungen der Bundesländer (Bundesrecht bricht Landesrecht).

Im übrigen bleibt es gerade Aufgabe der nationalen Politik, auf den Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments zu drängen, um die Machtzusammenballung auf Regierungs- und Exekutivebene der Europäischen Gemeinschaften wirksamer zu kontrollieren und damit die Identifikation mit der Europäischen Union zu erhöhen.

5.Die nationale Debatte in Deutschland

Die nationale Debatte in der Bundesrepublik wird unsere europäischen Nachbarn nicht unberührt lassen, wenn sich daraus eine integrationshemmende (im Sinne einer praktizierten) Absonderung vom europäischen Kontext ergeben sollte. Die Einbindung (West-)Deutschlands in supranationale, europäisch-atlantische Vertragswerke (EG und Nato) war und ist rational zwingend geboten und sollte angesichts der seit 1989 glänzend bestätigten Erfolge dieser Integration auch emotional in Deutschland mit Freude begleitet werden können. Die nach internationalen Maßstäben ungewöhnlich zügigen und erfolgreichenVier-plus- Vier-Verhandlungen mit dem Ergebnis der deutschen Vereinigung verdankt die Bundesrepublik Deutschland der bisherigen konsequenten Integrationspolitik. Und der offensichtlich erklärten Bereitschaft in diesen Verhandlungen, das vereinigte Deutschland insgesamt und ohne zeitlich-inhaltliche Vorbehalte in die weitere Integration einzubringen, namentlich in die Europäische Union mit dem Schwerpunkt der Wirtschafts- und Währungsunion. Andernfalls wäre wahrscheinlich eine Zustimmung Frankreichs nicht so einfach zu erlangen gewesen.

Auf der anderen Seite konnten weder der Westen noch die polnische Regierung Gefallen an dem sowjetischen Vorschlag finden, das Gebiet der DDR für einen gewissen Zeitraum in eine militärische Grauzone zu verwandeln. Auf die mit Leidenschaft geführte Debatte um die historische Dimension von Artikel16, Abs.2, Satz2 GG bezogen, macht dies deutlich, daß unseren gesamteuropäischen Nachbarn die Praxis von Artikel24, Abs.1 GG entscheidend wichtiger erscheint.

Der Vertrag über die Europäische Union bietet somit Gelegenheit, um aus der hoffnungslos verfahrenen nationalen Debatte über die geschichtsbedingt berechtigte Besonderheit von Artikel16 GG zur „Normalität“ der europäischen Integration nach 1992 überzugehen. Angesichts von Besorgnissen, damit werde die deutsche Schuld am Holocaust historisiert, erscheinen die Hinweise von Altbundeskanzler Willy Brandt außerordentlich hilfreich. Die Stimme des Emigranten Brandt wiegt dort schwer, wo er sagt: „Als ich Flüchtling war — das war im übrigen eine ganz andere Zeit. Es läßt sich ziemlich wenig von dort übertragen. Es ist sogar schwierig, genau nachzuvollziehen, was die Verfassungsväter 1948/49 gemeint haben, als sie den Asylrechts-Artikel16 in unser Grundgesetz schrieben. Jedenfalls haben sie es in einer Zeit geschrieben, als keiner in der ganzen Welt auf den Gedanken gekommen wäre, hier um Asyl nachzusuchen. Trotzdem war es wichtig, daß das Prinzip, Verfolgte aufzunehmen, in der Verfassung verankert wurde. Die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention kamen hinzu“ ('Stern‘ vom 23.Dezember 1991).

Auch wenn Brandt in seiner Pariser Rede Ende Januar 1992 (taz vom 27.Januar 1992) meines Erachtens zu Unrecht davon ausgeht, der Europäische Rat in Maastricht habe in puncto Einwanderung nichts vorwärtsbewegt, entwickelt er doch überzeugend die gesamteuropäische Notwendigkeit einer aktiven und konstruktiven Einwanderungspolitik für Westeuropa, die mit einer ebenso wichtigen Hilfe für die Herkunftsländer von Einwanderern verbunden sein muß.

In Dresden schließlich plädierte Brandt laut 'Süddeutscher Zeitung‘ vom 24.Februar 1992: „Deutschland hat jetzt die Chance, nach all dem Unsäglichen, was es sich selbst und der Welt zugemutet hatte, in eine Normalität zu finden, zu der andere auf ihre Weise auch finden mußten. Nicht eine ,Sonderrolle‘ ist das Thema, sondern gute Nachbarschaft — im Inneren und nach außen.“

Das fehlende Echo auf die erwähnten Beiträge von Bangemann und Brandt in der innenpolitischen Diskussion sind ein bemerkenswertes Indiz für die Verfahrenheit der Debatte. Eine gleichzeitige Absage an nationalstaatliche deutsche Politikund an die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union macht keinen Sinn. Die Parteien des Deutschen Bundestags wären vielmehr gut beraten, die im Vertrag von Maastricht begründeten Chancen für eine europäische Asyl- und Einwanderungspolitik rasch zu nutzen, um aus der unsäglichen Debattenlage herauszufinden.

Fernab von diskriminierender und ausgrenzender Attitüde kann man Verständnis haben für das überstrapazierte Rechtsempfinden von deutschen Bewohnern des unteren Drittels unserer Gesellschaft, die die Gleichheitsgarantie von Artikel3 GG für sich nicht mehr erfüllt wähnen im Vergleich zu dem unwürdigen Schauspiel, mit dem zuletzt 200.000 Zuwanderungswillige als „Asylbetrüger“ und unrechtmäßige Leistungsempfänger diffamiert werden. Diese Kurzsichtigkeit in der hektischen Debatte muß ein Ende haben, soll die alle gesellschaftlichen Kräfte fordernde Integrationsarbeit für die kommende Zuwanderung eine Chance von Anfang an haben.

Herbert Wulfekuhl ist Leiter der Landeszentrale für Politische Bildung in Bremen und Mitglied der SPD.