Milzbrand nach Biowaffen-Unfall?

Rußlands Umweltminister berichtet einer Delegation der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ von Explosion im Jahre 1979 bei Swerdlowsk/ Atomwaffen wurden weiter gebaut, Atomtests sind geplant  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — „Wir haben die Schlacht gegen den militärisch-industriellen Komplex verloren.“ Dieses resignative Fazit zog der russische Minister für Ökologie, Yabolkow, in einem Gespräch mit einer Delegation der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) Ende März in Moskau. Zugleich enthüllte er gegenüber den Ärzten einen 13 Jahre alten Skandal: Nach einer Milzbrand-Epidemie in der Region Swerdlowsk im Jahre 1979 sei von den Verantwortlichen der UdSSR eine „Fleischvergiftung“ als Ursache benannt worden. Tatsächlich habe es sich um eine Explosion bei der Herstellung von biologischen Waffen gehandelt. Es gebe zahlreiche unaufgeklärte Skandale, sagte Yablokow: „Aber wenn die Menschen das alles wüßten, wäre die Depression noch größer.“ Ein atomwaffenfreies Rußland, so Yabolkow nach Angaben von IPPNW-Vorstandsmitglied Ulrich Gottstein, bleibe ein „blauer Traum“, weil die Militärs Präsident Boris Jelzin längst über den Tisch gezogen hätten. Schließlich seien 150.000 Spezialisten in den GUS-Staaten mit der Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen befaßt. Und rund eine Million GUS-Bürger lebe mittelbar vom „Atomgeschäft“ — so in zehn geheimen Städten, die auf keiner Landkarte verzeichnet seien. Wollte man alle Atomwaffen auf dem Gebiet der GUS-Staaten demontieren, so der russische Minister für Atomenergie und Industrie und Galionsfigur des militärisch-industriellen Komplexes, Michailow, würde man etwa 15 Jahre und 20 Milliarden Dollar dazu brauchen. Bei einer Konversion, so die Argumentation der Hardliner, würde deshalb ein unlösbares soziales Problem „und ein Sicherheitsproblem“ auf die GUS-Staaten zukommen. Und ohnehin, so Michailow, produzierten und testeten ja auch die USA weiter Atomwaffen.

Zwei Wochen lang hatten IPPNW-Ärzte aus den USA, Schweden, Japan und Deutschland die vier GUS-Atomwaffenstaaten Rußland, Weißrußland, Kasachstan und die Ukraine bereist und mit den Präsidenten oder ihren Stellvertretern, mit Ministern, Parlamentariern und Medizinern gesprochen. Auf der Pressekonferenz der IPPNW gestern in Frankfurt zog Gottstein sein Fazit: „Alles ist noch viel schlimmer, als wir gedacht haben.“ So gingen die Militärs und Rußlands Atom- und Industrieminister Michailow davon aus, daß die Atomversuche im total verseuchten alten Testgelände Novaja Semlja „schon bald“ wieder aufgenommen werden könnten. Bereits Ende Februar habe Jelzin ein entsprechendes Dekret unterzeichnet. Und daß entgegen anderslautender Darstellungen auch weiter Atomwaffen produziert worden seien, habe Michailow im Gespräch mit der IPPNW-Delegation selbst zugegeben: Allerdings habe man mehr Atomwaffen vernichtet, als neue hergestellt. Der Darstellung Michailows, daß die Atomwaffen in der Ex- Sowjetunion „unter Kontrolle“ seien, so Gottstein, habe Ökologieminister Yablokow heftig widersprochen.

Auf „eisiges Schweigen“ bei Michailow und dem stellvertretenden Ministerpräsidenten von Rußland, Gennadi Burbukis, stieß die IPPNW- Delegation bei dem Versuch, das ganze Ausmaß der radioaktiven Verseuchung weiter Regionen Rußlands klären zu wollen, zu deren Dekontamination — nach Auffassung von Yablokow — etwa 200 Milliarden US-Dollar nötig wären.