„Großalbanien“ als Versuchung

Die demokratische Wende in Tirana und ihre Gefährdung durch die „nationale Frage“/ Das Potential der Ultrarechten  ■ Von Christian Semler

Kann man in den ehemals sozialistischen Ländern vom Wachstum des Rechtsextremismus sprechen? Falls ja, woran macht er sich fest, und welches Widerstandspotential ruft er hervor? Die Balkanregion mit ihren Nationalitätenkonflikten, ihren schier unlösbaren ökonomischen Problemen und ihren in die Zwischenkriegszeit zurückreichenden faschistischen Traditionen liefert in der Tat reichlich Anschauungsmaterial zu diesem Thema, und speziell der Fall Albaniens zeigt im Embryonalstadium die Chancen der demokratischen „Wende“ ebenso wie die Gefahr des Rückfalls in Formen kollektiver Hysterie.

Nach dem Ersten Weltkrieg und den Pariser Vorortverträgen blieben wichtige albanische Siedlungsgebiete, vor allem das Kosovo, außerhalb der Landesgrenzen des neuen albanischen Staates. Mussolini korrigierte nach der italienischen Invasion die Grenzen. Das von ihm geschaffene Großalbanien sollte freilich im italienisch-faschistischen Imperium aufgehen. Die Deutschen, Nachfolger der italienischen Besatzer, knüpften geschickt an das Großalbanien-Projekt an — sie stellten einem dem Reich verbündeten Nachkriegs-Albanien nicht nur das Kosovo, sondern auch Teile Jugoslawisch Mazedoniens und des südlichen Montenegro in Aussicht. Damit konnten sie zwar bei der antifaschistisch gesonnenen Bevölkerungsmehrheit nicht landen — wohl aber bei einer Reihe nationalistischer Gruppierungen. Aus deren Reihen rekrutierte sich die SS-Division „Skanderberg“, die vor allem im Kosovo unter den jugoslawischen Partisanen wütete. Noch heute wird der Tirana-Besucher zu seinem Entsetzen von Zeit zu Zeit mit Sprüchen über die „sogenannten Partisanen“ und über die deutsch-albanische „Waffenbrüderschaft“ konfrontiert.

Das sind Einzelfälle, aber der Ethnozentrismus ist im öffentlichen Leben des Landes mit Händen zu greifen. Im historischen Museum zu Tirana würden die Liebhaber „nationaler Identität“ voll auf ihre Kosten kommen. Von der jüngeren Steinzeit bis 1945 zieht sich eine klare Linie — der Kampf um die Selbstbehauptung des illyrischen, das heißt albanischen Volkes. Dem Museumsbesucher wird zwar mittlerweile die Besichtigung der real-sozialistischen Herrschaftsepoche durch eine diskrete Kordel verwehrt — dennoch steht fest, daß sich die albanischen Kommunisten als Vollender des Jahrhunderte währenden, bewaffneten Kampfs um die albanische Nation sahen. Dem Mythos des bewaffneten Kampfes entsprach allerdings kein Programm der territorialen Vereinigung der gespaltenen Nation. Vor allem hinsichtlich des Kosovo hielt sich die kommunistische Führung zurück. Sie beklagte die nationale Unterdrückung der Kosovo-Albaner, rührte aber keinen Finger zu ihrer Unterstützung. Die in ihrem innerpolitischen Kurs so aberwitzigen Stalinisten vermieden außenpolitisch jedes Experiment — selbst als der Auseinanderfall Jugoslawiens offenkundig wurde.

Ramiz Alia als Wende-Präsident forderte für die Albaner des Kosovo das Selbstbestimmungsrecht, für die Mazedoniens die Autonomie. Großalbanische Töne waren von ihm genauso wenig zu vernehmen wie aus der Parteizentrale der frisch gebackenen Sozialisten. Die Frage ist, ob die auch bei den Wahlen Anfang April sichtbar gewordene „nationale Lücke“ Gruppierungen auf den Plan ruft, die die großalbanische Agitation mit Ablehnung demokratischer Werte und antizivilisatorischen Stereotypen verbinden, also in dem uns geläufigen Sinn als Rechtsradikale einzustufen sind.

Der Abscheu vor der serbischen Unterdrückung im Kosovo ist in Albanien allgegenwärtig. Aber der nunmehr regierenden Demokratischen Partei Sali Berishas, einem Sammelbecken konservativer Kräfte, ist es gelungen, den Kampf um Menschenrechte und Selbstbestimmung ins Zentrum der Kosovo- Politik zu rücken. Zwischen Sali Berisha und dem Chef der Demokratischen Liga des Kosovo, Rugova, bestehen enge Kontakte, das heißt der auf strikte Gewaltlosigkeit orientierende Kurs der Kosovo-Demokraten wird in Tirana unterstützt. Der betont westliche, auf „Rückkehr nach Europa“ ausgerichtete Diskurs aller größeren politischen Gruppierungen in Albanien nimmt zwar die „Wiedervereinigung“ mit dem Kosovo ins Kalkül, vermeidet aber alle chauvinistischen Untertöne. Und sei es auch nur, um die westlichen Partner nicht zu verschrecken. So sind die großalbanischen Vereinigungen, wie auch die Wahlen bewiesen, an den Rand gedrängt. Fragt sich nur, wie lange.

In einer Gesellschaft, in der die vollendete Ordnung der Stalinisten in vollendetes gesellschaftliches Chaos umschlug, wächst der Hang zur Gewaltanwendung. Schon sind Bürger der griechischen Minderheit in Albanien Opfer von Repressalien geworden, mit denen erbitterte Albaner auf angebliche und wirkliche Mordtaten der griechischen Grenzorgane gegenüber Flüchtlingen reagierten. Die serbische Besatzungsmacht im Kosovo kann nicht mehr lange darauf zählen, daß die Demokratische Liga die Gemüter besänftigt — und Waffen sind überall leicht zu beschaffen.

In dieser Situation wird viel davon abhängen, ob die westlichen Staaten ihre Grenzen dicht halten und das Volk mit Brosamen abspeisen. Würde die Europa-Begeisterung der meisten Albaner frustriert, so könnte der Isolationismus, diesmal aber in ultrarechter statt ultralinker Gewandung, auf die Bühne zurückkehren. Selbstmitleid und das Gefühl, von niemandem verstanden und von jedermann verraten zu werden, sind immer noch der beste Nährboden für eine chauvinistische Gewalt.