Der Mythos von der Toleranz Schwedens

„We shall overcome“ als Antwort auf Attentate/ Reaktionen sind zwar gutwillig, aber hilflos und ohne Bewußtsein für die Ursachen des Rechtsextremismus/ Scharfe Parteidebatten, doch am Ende nur Passivität/ Persönlicher Mut bei Jugendlichen  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Eigentlich dürfte das alles gar nicht sein: ausgerechnet in Schweden gibt es nun, nach und trotz fünf Jahrzehnten Volkserziehung zu Toleranz und Gemeinschaftsdenken, nicht nur eine ausgesprochen wählerwirksame parlamentarische Rechte, sondern darüber hinaus auch noch eine extreme Rechte; die predigt Rassenhaß nicht nur, sie bombt auch und schießt.

Da das also nicht sein darf, ist es wohl einfacher, alles wie einen Spuk darzustellen, ein Phänomen, das bald wieder verschwinden wird. Als ob die üblichen paar verständnisvollen Worte und Gesten für die Betroffenen und Verängstigten genügen würden, das Drohen mit staatlichen Machtmitteln für die Terroristen (die die Polizei im übrigen noch immer wieder vergeblich sucht).

Die Hilflosigkeit des politischen Schweden angesichts des plötzlich sichtbar gewordenen rechtsextremen Sumpfes im Lande ist unabhängig von der ideologischen Richtung der Parteien — furchtbar gutwillig sind alle, hilflos und so ganz ohne Bewußtsein für die Gründe, die hinter dem explodierenden Rechtsextremismus stecken. Als die Einwanderungsministerin von verängstigten AusländerInnen bedrängt wird, was der Staat denn bitte gegen die terroristischen Todesschützen zu unternehmen gedenke, schlägt sie vor, We shall overcome anzustimmen. Und während im Land eine beispiellose Attentatswelle gegen Ausländer rollt, drischt der Ministerpräsident in aller Ruhe Stroh, als ginge ihn alles nichts an. Die Sozialdemokraten, nun in der Opposition, schieben die Schuld der Regierung zu — als seien nicht sie für die Jahrzehnte verantwortlich, in denen etwas schief gelaufen sein muß.

Völlig verschwunden ist das Thema, trotz der trügerischen Ruhe der letzten Wochen, allerdings nicht aus der öffentlichen Diskussion. Auf traditionell-schwedische Art sollen ein paar Spuren bleiben — in den Lehrplänen der Schulen und im Aufklärungsprogramm von Funk und Fernsehen.

Dort wird die Materie allerdings so präsentiert, daß sie mit Schweden herzlich wenig zu tun hat — es geht primär um die Greueltaten, die der Rechtsextremismus, zur Macht gekommen, in Europas Geschichte hinterlassen hat; vor allem in Nazideutschland. Allenfalls in den Kulturseiten der Presse spüren vereinzelte Autoren die Wurzeln des schwedischen Rechtsextremismus auf. „Der Hund liegt schon da begraben, daß wir Schweden meinen, besonders tolerant und weltoffen zu sein“, schreibt der Friedensforscher Wilhelm Agrell und bringt so das nordische Selbstverständnis ins Wanken: „Ich kam Ende der fünfziger Jahre in einem Stockholmer Vorort in die Schule. Dort wurde schnell bemerkt, daß ich anders sprach: südschwedisch. Es herrschten strenge Regeln an dieser Schule. Jemanden für sein Anderssein zu hänseln, war strikt untersagt. Andererseits ging es natürlich nicht an, daß man anders sprach als die Hauptstädter. Die Schule verpaßte mir einen Sprachpädagogen, der meine Aussprache trainierte. Das war und ist, wie ich später bemerkte, ein kleiner Teil eines ganzen Gebäudes.“

So ging die zentralistische, durchnormierte schwedische Gesellschaft die Migrationsbewegung der letzten Jahre ganz nach altbewährter Methode an: die Präsenz der Fremden wurde als Problem erkannt, daher schuf man eine eigene Bürokratie dafür, und die siebte, integrierte oder warf hinaus. Agrell: „Dazu gibt es in unserer Geschichte eine Parallele: der Kampf gegen den 'Judenimport‘ aus Deutschland in den dreißiger Jahren.“ Damals wie heute ging das, was zuerst sprachlich, erzieherisch, gesetzlich und politisch unter dem Vorzeichen von Abgrenzung und Angst gesät wurde, später als blühender Rechtsextremismus auf.“ Urplötzlich natürlich und unerklärlich: „Der Mythos von der Toleranz Schwedens und der Schweden bewirkte, daß niemand sah oder sehen will, daß das Feindbild, das da unmerklich aufgebaut wurde, politisch legitim wurde, weil niemand beim ersten Anzeichnen laut genug aufschrie.“

Agrell, wie auch andere Analytiker, liefern freilich selbst nur ein Erklärungsmuster — ohne danach weiterzuwissen, wie die politische Praxis aussehen soll. Eine Abnahme des Auslösers für den Extremismus, die Migrationsbewegungen Richtung Europa, ist nicht in Sicht, Vogel-Strauß-Politik hilft da am wenigsten. Die Änderung müßte wohl dort einsetzen, wo „gesät“ wird. Doch genau da ist die Bereitschaft zur Selbstkritik noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Auch die Intellektuellen meinen ihre Schuldigkeit bereits getan zu haben, wenn sie ihre Analysen abgeliefert haben. Wobei es wohl mitunter auch bei diesen hapert: Der Rechtsextremismus sei ein winziges Unkraut, das künstlich vergrößert und ins Scheinwerferlicht gerückt wurde, um von den eigentlichen Problemen abzulenken, meint ausgerechnet der „Altlinke“ Jan Myrdal: Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus sind für ihn mit der Niederlage Hitler-Deutschlands für immer und ewig begraben worden. Werde diese Leiche jetzt ausgegraben und als Gefahr präsentiert, dann nur, um vom Zusammenbruch der Marktwirtschaft abzulenken. Nichtstun also, weil da gar nichts ist? Reichen Sonntagsreden und Polizeieinsatz gegen allzu große Auswüchse aus?

Einfache Menschen machen es den Politikern ab und an vor, daß man etwas machen muß. Ein 17jähriger Schüler hat zusammen mit seiner Freundin einen ausländischen Mitschüler wochenlang verborgen, weil dieser ausgewiesen werden sollte — die dafür ausgeschickten Polizisten waren ausgerechnet Vater und Großvater des Paares. Zuhause kam es zu schweren Spannungen, von Mitschülern wurden die beiden mit Hakenkreuzen zusammengeschlagen. Doch sie geben nicht auf: „Wir würden es wieder machen, auch, um es denen zu zeigen.“