Gericht rehabilitiert Vichy-Regime

Prozeß gegen Nazi-Kollaborateur Touvier wurde eingestellt/ Staatsanwaltschaft beantragt Revision  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„Daß unter dem Vichy-Regime eine bestimmte Ideologie geherrscht hat, kann man nicht behaupten. Die Politik der Kollaboration war ursprünglich eine pragmatische Politik.“ Bei „den meisten hochgestellten Anhängern von Marschall Pétain“ herrschte „völlige Unkenntnis der deutschen nationalsozialistischen Ideologie“. „Im Vichy-Frankreich kam es niemals zu einer offiziellen Erklärung, daß der Jude Staatsfeind ist.“ Diese Zitate stammen nicht etwa von einem Politiker der Front National oder Anhängern der „Auschwitz-Lüge“, sondern aus der Urteilsbegründung der Anklagekammer des Pariser Appelationsgerichts zum Fall Paul Touvier. Konsequenz: Das Verfahren gegen den Nazi-Kollaborateur und Ex-Geheimdienstchef der Miliz von Lyon ist eingestellt. Der Generalstaatsanwalt beantragte Revision. Touvier war angeklagt, in sechs Fällen Menschen ermordet und deportiert zu haben. Die drei Richter der Anklagekammer urteilten, daß die Beweise nur in einem Fall ausreichten, den er selbst zugegeben hat: 1944 hatte Touvier die Ermordung von sieben jüdischen Geiseln in Rillieux-la-Pape bei Lyon befohlen, als Rache nach der Ermordung des Vichy-Informationsministers durch die Résistance. Einer der heutigen Belastungszeugen war damals als einziger Nicht-Jude aus der Gruppe der Geiseln ausgesondert worden. Das Gericht kam jedoch zu dem Schluß, daß der Mord kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und daher verjährt sei.

Im Prozeß gegen den Gestapo- Chef von Lyon, Klaus Barbie, war definiert worden, daß „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ die „Ausführung eines konzertierten Plans voraussetzen, der im Namen eines Staates vollstreckt wurde, der systematisch eine Politik der ideologischen Hegemonie praktizierte“. Die Ermordung der sieben Juden sei kein Dienst an Deutschland gewesen, sondern eine innerfranzösische Angelegenheit, denn die Miliz habe ausschließlich für das Vichy-Regime gearbeitet, erklärt das Gericht. Vichy aber „war kein totalitärer Staat und praktizierte selbst keine Politik der ideologischen Hegemonie“, heißt es in der 215 Seiten langen Urteilsbegründung. Nach dieser Argumentation können also nur deutsche Nazis, nicht aber ihre französischen Handlanger Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.

Tatsächlich ist deswegen noch kein Prozeß gegen einen Franzosen eröffnet worden, die Untersuchungsverfahren gegen René Bousquet und Maurice Papon schleppen sich seit Jahren hin. Bousquet hatte als Polizeichef von Vichy 50.000 Juden verhaftet, Papon, Ex-Generalsekretär der Präfektur der Gironde, ließ 1.200 Juden deportieren. Zu einer Zeit, als die Deutschen „nur“ die Auslieferung ausländischer männlicher Juden im Alter zwischen 17 und 45 Jahren forderten, schickte Papon bereits französische und weibliche Juden aller Altersgruppen in den Tod. Die beiden 82jährigen können hoffen, daß sie ihre Prozesse nicht mehr erleben müssen.

Die drei Fälle zeigen, wie stark die Kräfte sind, die einen Prozeß über die Kollaboration verhindern wollen. Touvier war nach dem Krieg zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. 1971 begnadigte ihn Pompidou, worauf Kinder von Touviers Opfern neue Klagen einreichten. Polizei und Geheimdienst trieben ihn jedoch erst auf, nachdem das Satireblatt „Le Canard Enchainé“ enthüllt hatte, daß er in einem Kloster in Nizza versteckt wurde. Der Mann, der nicht den Hauch eines Schuldbewußtseins verspüren ließ, ist also mit zwei Jahren U-Haft davon gekommen: Bereits seit Juli 1991 ist er frei — die Kaution von 18.000 Mark kann er nun wieder abholen.

Der heute 82jährige Widerstandskämpfer Jean de Filippis, der von Touvier verhaftet, gefoltert und nach Mauthausen deportiert wurde, sagte nach dem Urteil: „Die französische Justiz ist völlig korrupt. Ich schäme mich, Franzose zu sein.“ Der Historiker René Rémond erklärte, die Richter hätten die Miliz mit „sophistischen, paralogistischen und absurden Schlußfolgerungen“ entschuldigt.